Die Sünde der Brüder
Er war sich nicht sicher, ob ihn das störte.
Tom zufolge hatte der Schotte kein Wort gesagt. War nur aus dem Nichts aufgetaucht, wie ein Geist an ihm vorbeigestapft, hatte ein Stück Papier auf den Schreibtisch gelegt und war genauso lautlos, wie er gekommen war, wieder verschwunden.
»Da ist es, Mylord.« Tom wies kopfnickend auf den Schreibtisch und schluckte erneut. »Mir war nicht danach, es anzufassen.«
Tatsächlich lag ein zerknittertes Stück Papier auf dem Schreibtisch, das von einem größeren Blatt abgerissen worden war. Grey hob es so vorsichtig auf, als könnte es explodieren.
Das Papier war schmierig; an einigen Stellen war es von Ölflecken beinahe durchsichtig geworden, und es roch so, als wäre ursprünglich einmal ein Fisch darin eingewickelt gewesen. Was hatte er wohl als Tinte benutzt?, fragte sich Grey und strich vorsichtig mit dem Daumen über den Zettel. Das Schwarz verschmierte augenblicklich und blieb an seinen Fingern hängen. Kerzenruß mit Wasser vermischt.
Es war nicht unterzeichnet und denkbar knapp.
Ich glaube, dass Eure Lordschaft hier einer Wildgans nachstellen .
»Nun, ich danke Euch sehr für Eure Meinung, Mr. Fraser!«, brummte er. Er knüllte das Papier zu einer Kugel zusammen, die er sich in die Tasche steckte. »Könnt Ihr es so einrichten, dass wir morgen früh aufbrechen können, Tom?«
»Oh, ich kann auch in einer Viertelstunde fertig sein, Mylord!«, versicherte Tom ihm dienstbeflissen, und Grey musste unwillkürlich lächeln.
»Ich glaube, morgen früh reicht mir.«
Doch er lag die ganze Nacht wach und sah zu, wie der frühherbstliche Mond groß und golden über den Stallungen aufging, um dann immer kleiner und weißer zu werden, während er sich in den Sternenhimmel erhob, das Haus überquerte und schließlich aus dem Blickfeld verschwand.
Nun hatte er also seine Antwort - oder zumindest eine Antwort. Percy würde nicht sterben, und er würde auch nicht den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen, wenn Grey es verhindern konnte. So viel war beschlossen. Außerdem hatte er beschlossen, dass er nicht vor einem Kriegsgericht lügen konnte. Nicht, dass er es nicht tun würde, sondern dass er es nicht konnte. Also würde er einen anderen Weg finden.
Wie er dies genau bewerkstelligen wollte, war ihm noch nicht ganz klar, doch er stellte fest, dass er ständig an seinen
Besuch bei Hauptmann Bates in Newgate denken musste - und bei dieser Erinnerung regte sich der Hauch einer Idee. Die Tatsache, dass diese Idee eigentlich Wahnsinn war, störte ihn nicht besonders; er war längst über den Punkt hinaus, an dem er sich über Dinge wie den Zustand seines Hirns Sorgen machte.
Während er allerdings über die Einzelheiten seines keimenden Plans nachdachte, musste er sich zusätzlich mit einer weiteren Antwort auseinandersetzen.
Sein erster Impuls angesichts von Frasers einzeiliger Note war die Annahme gewesen, dass der Mann ihn verspottete und abwies. Und so, wie ihre letzte Begegnung verlaufen war, war er bereit, dies zu akzeptieren.
Aber er konnte diese katastrophale Unterhaltung nicht aus seinem Gedächtnis löschen - nicht, wenn sich die Antwort auf sein Dilemma in Bezug auf Percy darin fand. Und jedes Mal, wenn ihn das Echo dieser Sätze einholte, brachte es Jamie Frasers Gesicht mit sich. Die Wut - und die furchtbare Nacktheit dieses letzten Augenblicks.
Diese Note war kein Hohn. Fraser war problemlos in der Lage, ihn zu verspotten - und er hatte keine Hemmungen, es zu tun -, doch kein Hohn konnte tarnen, was er in Frasers Gesicht gesehen hatte. Keiner von ihnen hatte dies gewollt, doch nun konnte auch keiner von ihnen die Aufrichtigkeit dessen leugnen, was zwischen ihnen vorgefallen war.
Er hatte voll und ganz damit gerechnet, dass sie einander gänzlich aus dem Weg gehen würden, damit die Erinnerung an die Worte, die dort im Stall gefallen waren, erst einmal verblassen konnte und es ihnen bei seinem nächsten Aufenthalt in Helwater vielleicht gelingen würde, sich wieder zivil gegenüberzutreten - ohne diese Momente brutaler Aufrichtigkeit zu vergessen, ohne sie aber auch zum Thema zu machen. Doch Fraser war ihm nicht aus dem Weg gegangen - zumindest nicht gänzlich. Er konnte gut verstehen, warum der Mann lieber eine Note hinterlassen hatte, statt ihn anzusprechen. Er hätte ja selbst nicht persönlich mit Fraser sprechen können; nicht so kurz danach.
Er hatte Fraser gesagt, dass er seine Meinung als die eines aufrichtigen Mannes schätzte, und
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