Die Sünde der Brüder
Fraser zu locken, war vergeblich; der Schotte sah ihn nur mit der Miene eines Mannes an, der auf der Straße einen Exkrementhaufen betrachtet.
»Oder vielleicht war Euch ja auch klar, dass Euer Wissen nicht wertvoll genug war, um jemanden zu interessieren«, deutete Grey an, denn er wollte - oder konnte - nicht aufgeben. Man hatte Fraser gewiss gezwungen, einen Treueeid auf König George abzulegen, als man ihm nach Culloden das Leben ließ, doch Grey war nicht so dumm, an diesen Eid zu appellieren.
»Das habe ich nie gesagt, Major«, erwiderte Fraser kühl. »Wenn das, was ich weiß, für irgendjemanden einen Wert besitzt, dann nehme ich an, dass Ihr derjenige seid.«
»Wie kommt Ihr denn darauf?« Greys Herz hämmerte gegen seine Rippen, doch er war um den gleichen belanglosen Ton bemüht wie Fraser.
»Seit dem Ende der Stuarts sind ein Dutzend Jahre verstrichen«, merkte Fraser an. »Und seitdem hat mich niemand mehr bedrängt, weil er erfahren wollte, was ich über die Aufrührer weiß. Man hat mich bei der Verhandlung danach gefragt, aye - doch selbst damals hatte man kein großes Interesse an meiner Antwort.«
Der dunkelblaue Blick schweifte gleichgültig und zynisch über ihn hinweg.
»Ist es so schlecht um Euer Schicksal bestellt, dass Ihr es mit den Gebeinen der Toten bessern wollt?«
»Mit den -« Zu spät begriff er, dass Fraser es bildlich gemeint hatte, nicht wörtlich.
»Es geht nicht um mein eigenes Schicksal«, sagte er. »Doch was die Toten betrifft - ja. Ich interessiere mich nicht für die Jakobiten, die noch leben. Wer von ihnen noch übrig ist, kann von mir aus zum Teufel gehen oder zum Papst.«
Er fühlte sich verdächtig wie ein Junge, den er einmal im
zoologischen Garten in Paris gesehen hatte und der einen Stock in den Käfig eines dösenden Tigers gesteckt hatte. Das Tier hatte weder gefaucht noch hatte es sich gegen die Gitterstäbe geworfen, doch seine schrägen Augen hatten sich langsam geöffnet und sich auf das Kind geheftet, sodass der unbedarfte Bengel seinen Stock fallen gelassen und wie erstarrt dagestanden hatte, bis ihn seine Mutter fortgezerrt hatte.
»Die Toten«, wiederholte Fraser und hielt seinen Blick mit diesem gebannten Ausdruck auf Grey gerichtet, der ihn so aus der Fassung brachte. »Was sucht Ihr also unter den Toten?«
»Einen Namen. Nur einen.«
»Und welchen?«
Grey spürte, wie ihn ein Gefühl des Grauens überkam, das seinen Körper lähmte und seine Zunge trocknen ließ. Und doch musste er seine Frage stellen.
»Grey«, sagte er heiser. »Gerard Grey. Herzog. Herzog von Pardloe. War er -?« Ihm ging der Speichel aus; er versuchte zu schlucken, konnte es aber nicht.
Frasers Blick hatte sich geschärft; seine dunkelblauen Augen glitzerten, im Zwielicht zusammengekniffen.
»Ein Herzog«, sagte er. »Euer Vater?«
Grey konnte nur nicken und hasste sich für seine Schwäche.
Fraser grunzte; unmöglich zu sagen, ob vor Überraschung - oder Genugtuung. Einen Moment lang hielt er seine Augen verborgen und überlegte, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein.«
»Ihr sagt es mir nicht?«
Es war Überraschung. Fraser sah ihn verwundert an und runzelte die Stirn.
»Ich meine, die Antwort ist nein. Ich habe den Namen nie auf einer Liste der Anhänger James Stuarts gesehen oder ihn je gehört.«
Er betrachtete Grey mit großer Neugier - kein Wunder, dachte Grey. Er konnte sehen, wie unausgesprochene Fragen durch die Augen des Schotten huschten, doch er wusste, dass
sie unausgesprochen bleiben würden - genau wie seine eigenen Fragen in Bezug auf Geneva Dunsany.
Er empfand irgendetwas zwischen gewaltiger Erleichterung und niederschmetternder Enttäuschung. Er war darauf gefasst gewesen, das Schlimmste zu hören, und war nur gegen eine glatte Wand geprallt. Gern hätte er weiter auf Antworten gedrungen, doch das wäre sinnlos gewesen. Ganz gleich, was Fraser sonst sein mochte; Grey hegte keinen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. Er hätte ihm die Antwort verweigern können, doch er hatte geantwortet, und Grey war gezwungen, ihm zu glauben.
Dass die Antwort immer noch Raum für Zweifel ließ - vielleicht war Fraser ja nicht hinreichend mit den wichtigsten Köpfen der Jakobitenverschwörung vertraut gewesen, um einen so wichtigen Namen zu hören zu bekommen; vielleicht war der Herzog schon zu lange tot, als sich Fraser der Sache der Stuarts anschloss - oder vielleicht war der Herzog ja so schlau gewesen, sich erfolgreich vor jedermann außer den Stuarts
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