Die Sünde der Brüder
sagen sollte oder nicht.
»Bath«, sagte er nach einer Sekunde des Zögerns.
»Schon wieder? Was zum Teufel ist denn in Bath?«
»Das geht dich nichts an.«
Schlagartig und ohne Vorwarnung riss Grey der Geduldsfaden. Er ließ die Bücher mit einem Knall auf den Tisch fallen.
»Sag mir ja nicht, was mich etwas angeht und was nicht!«
Wenn er Hal aus der Fassung brachte, so dauerte dies nicht länger als eine Sekunde.
»Muss ich dich daran erinnern, dass ich das Oberhaupt dieser Familie bin?«, sagte er und senkte die Stimme mit einem Blick auf die Tür.
»Und ich bin ein Teil dieser Familie, zum Kuckuck. Du kannst mich nicht abwimmeln, indem du mir sagst, dass mich die Dinge nichts angehen. Du kannst mich nicht nach Aberdeen abschieben, um zu verhindern, dass ich Fragen stelle!«
Hal sah aus, als hätte er genau das am liebsten getan, doch er beherrschte sich, was ihn sichtlich Mühe kostete.
»Das war nicht der Grund, warum wir dich nach Aberdeen geschickt haben.«
Grey hakte weiter nach.
»Was denn dann?«
»Das werde ich dir nicht sagen.«
Grey war seit Jahren nicht mehr handgreiflich gegen Hal geworden, und bei seinem letzten Versuch hatte er verloren. Er warf Hal einen Blick zu, der andeutete, dass er diesmal nicht verlieren würde. Hal erwiderte seinen Blick und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als wollte er sagen, dass er die Gelegenheit begrüßen würde, seinen Gefühlen durch Gewaltanwendung Luft zu machen. Das war ja interessant: Hal war also angespannter, als es den Anschein hatte.
Grey starrte seinem Bruder in die Augen und löste demonstrativ seine Faust, um dann die Hand flach auf den Tisch zu legen.
»Ich beleidige deine Intelligenz nur ungern, indem ich dich darauf hinweise, dass ich ein erwachsener Mann bin«, sagte er höflich.
»Gut«, sagte Hal ausgesprochen trocken. »Dann beleidige ich deine nicht mit der Erklärung, dass es genau diese Tatsache ist, die es mir verbietet, dir noch mehr zu erzählen. Ich erwarte dich morgen um zehn Uhr auf dem Exerzierplatz.«
Er verließ das Zimmer, ohne sich umzublicken, obwohl eine gewisse Anspannung seiner Schultern verriet, dass er damit rechnete, dass Grey mit einem Gegenstand nach ihm werfen könnte.
Hätte sich etwas Geeignetes innerhalb seiner Reichweite befunden, hätte er das wahrscheinlich auch getan. So jedoch rauschte ihm das Blut in den Ohren, und er blieb mit geballten Fäusten zurück.
Eine Flut gegensätzlicher Anweisungen aus drei verschiedenen Ämtern in Whitehall, eine Fieberepidemie in der Kaserne und der plötzliche Untergang - im Hafen - eines der Transportschiffe, die sie nach Deutschland bringen sollten, hielten Grey während der folgenden Woche zu sehr auf Trab, als dass er sich um die Ereignisse in Sussex hätte sorgen können oder mehr als beiläufig hätte registrieren können, dass man die angeblichen sodomitischen Verschwörer zum Tode verurteilt hatte.
Am Ende des Arbeitstages saß er in seiner eigenen kleinen Amtsstube, starrte die Wand an und fragte sich gerade, ob es wohl die Mühe lohnte, seinen Rock anzuziehen und zum Abendessen zum Beefsteak zu gehen, oder ob er einfach den Wachtposten an der Tür bitten sollte, ihm auf der Straße ein Fleischpastetchen zu besorgen, als besagter Wachtposten persönlich erschien und ihn fragte, ob er eine Besucherin empfangen würde - eine gewisse Mrs. Tomlinson.
Nun, damit löste sich zumindest sein unmittelbares Dilemma.
Er würde seinen Rock anziehen müssen, um die Dame zu empfangen, wer auch immer sie war.
Die Frau eines Soldaten vielleicht, die gekommen war, um ihn zu bitten, ihrem Mann aus irgendeiner Zwickmühle zu helfen oder ihr seinen Sold im Voraus auszubezahlen - Tomlinson, Tomlinson … Er ging im Geiste seine Rekrutenliste durch, konnte sich aber an keinen Tomlinson erinnern. Natürlich gab es ständig Neuzugänge … oh, nein. Jetzt fiel es ihm ein, diese Mrs. Tomlinson war Minnies Bekannte, die Mätresse des just zum Tode verurteilten Hauptmann Bates. Er stieß einen Kommentar aus, der den Wachtposten blinzeln ließ.
»Bringt sie nach oben«, sagte er. Er rückte seine Rockaufschläge gerade und strich sich die Krümel seines Mittagessens von den Hemdrüschen.
Mrs. Tomlinson erinnerte Grey - nicht unangenehm - an sein Lieblingspferd. Wie Karolus hatte auch sie ein kräftiges Kinn, freundliche Augen und eine helle Mähne, die sie fest zu Zöpfen geflochten hatte wie eine Paradefrisur. Sie vollführte einen tiefen Hofknicks
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