Die Sünde der Brüder
einzige Erklärung, die ich mir für ein solches Verhalten vorstellen kann.«
Sir George dachte angestrengt nach und bohrte die Zähne in seine Oberlippe, konnte aber nur den Kopf schütteln.
»Gar nichts«, sagte er hilflos. »Ich bin in keinen Skandal verwickelt gewesen. Keine Affaire , kein Duell. Ich habe mich nicht in der Öffentlichkeit betrunken - ich habe noch nicht einmal einen kontroversen Brief in einer Zeitung veröffentlicht!«
»Nun, dann bleibt Euch nichts anderes übrig, als eine Erklärung zu verlangen«, sagte Grey. »Ich finde, Ihr habt ein Anrecht darauf.«
»Nun, das dachte ich auch«, sagte Sir George, der sich plötzlich trotzig gab. »Deswegen bin ich ja hier. Aber ich fürchte … der Butler sagt, sie hat ihm Anweisungen gegeben… und ich möchte nicht anecken …«
»Was habt Ihr denn zu verlieren?«, fragte Grey unverblümt. Er wandte sich Tom zu, der sich unauffällig an die Tür zurückgezogen hatte, und wollte ihn gerade bitten, die Kammerzofe der Gräfin herunterzuholen, als er daran gehindert wurde, weil sich die Tür öffnete.
»Oh, Sir George!« Olivias Gesicht erhellte sich beim Anblick des Generals. »Wie schön, Euch zu sehen! Weiß Tante Bennie, dass Ihr hier seid?«
Mit ziemlicher Sicherheit, dachte Grey. Ganz gleich, in was für einem Zustand geistiger Umnachtung sie sich gegenwärtig befinden mochte, er war sich sicher, dass die Logik seiner Mutter immer noch so weit reichte, dass sie sich denken konnte, was für eine Wirkung ihre Note haben würde. Und mit großer Wahrscheinlichkeit war ihr nicht entgangen, dass Sir Georges Kutsche draußen auf der Straße vorfuhr; sie war zwar nicht mehr neu, aber solide und groß genug, um nicht nur mehrere Passagiere aufzunehmen, sondern auch ein kleines Orchester zu ihrer Unterhaltung en route .
Daher hatte sie sich wahrscheinlich auch einen Entschluss zurechtgelegt, was sie tun würde, wenn er tatsächlich auftauchte. Und da sie die Anweisung erteilt hatte, Sir George nicht einzulassen, hatte Grey ohne Handschellen oder einen Rammbock wahrscheinlich nur eine sehr geringe Chance, sie dazu zu bewegen, ihr Boudoir zu verlassen und mit dem General zu sprechen.
Während er diese unglücklichen Schlüsse zog, hatte Olivia Sir George den Grund seines Besuchs entlockt und ließ nun ihrer Bestürzung freien Lauf.
»Aber was kann sie denn bewogen haben, etwas so Unerklärliches zu tun?«, wandte sich Olivia an Grey, und ihre Aufregung übertraf die des Generals bei weitem. »Alle Einladungen sind verschickt! Die Hochzeit ist nächste Woche! All die Kleider, die Schleifen, die Dekorationen! Die Vorbereitungen für den Hochzeitsempfang - es ist doch alles bereit!«
»Alles bis auf die Braut offensichtlich«, stellte Grey fest. »Sie ist doch nicht plötzlich nervös geworden, oder?«
Olivia runzelte die Stirn und fuhr sich geistesabwesend mit den Händen über ihren Kugelbauch - eine Geste, die den General veranlasste, sich taktvoll abzuwenden und so zu tun, als prüfe er erneut den Sitz seiner Perücke im Spiegel.
»Sie war gestern beim Abendessen ein wenig merkwürdig«, sagte sie langsam. »Sehr still. Ich bin davon ausgegangen, dass sie müde war - wir hatten den ganzen Tag mit der Anprobe ihres Kleides verbracht. Ich habe mir nichts dabei gedacht.
Aber …« Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen fest aufeinander.
»Das kann sie mir nicht antun !«, rief sie aus, machte auf dem Absatz kehrt und hielt mit der Entschlossenheit eines Bergsteigers, der es mit dem Hindukusch aufnehmen will, auf die Treppe zu. Olivia war wahrscheinlich die Einzige von ihnen, der es gelingen konnte, sich Einlass in das Boudoir seiner Mutter zu verschaffen. Sir George sah Grey mit offenem Mund an, doch dieser zuckte nur mit den Achseln. Wie er ja schon gesagt hatte, gab es schließlich nichts zu verlieren.
Endlich von Olivias unübersehbar fruchtbarer Gegenwart befreit, hatte sich der General vom Spiegel abgewandt und spazierte nun durch das Zimmer, wo er wahllos Gegenstände in die Hand nahm und sie wieder hinlegte.
»Und Ihr glaubt nicht, dass sie damit vielleicht meine Hingabe auf die Probe stellen will?«, fragte er hoffnungsvoll. »So wie Leander durch den Hellespont geschwommen ist?«
»Ich glaube, wenn sie gewollt hätte, dass Ihr ihr das Ei eines Elefantenvogels bringt oder eine ähnliche Tat vollbringt, hätte sie es Euch gesagt«, sagte Grey so rücksichtsvoll wie möglich.
Olivia hatte die Tür einen Spalt offen gelassen; er
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