Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
Beines seinen Ausgang nahm, strahlte inzwischen in den ganzen Körper aus. Er sandte glühende Stiche in die Rippen, in Schultern, Arme, Hände. Zeitweise machte er ihr das Atmen schwer. Wenn sie, völlig übermüdet, wie sie war, für Momente einschlief, sorgte er dafür, daß sie rasch wieder aufschreckte.
    Sie kauerte auf einem Teppich in der Ecke, um die Schultern eine staubige, modrig riechende Decke, die Mario aus einem Schrank geholt und ihr gegeben hatte. Sie fröstelte die ganze Zeit, obwohl es warm war. Es mußte an den Schmerzen liegen, vielleicht hatte sie auch Fieber. Irgendwann während dieser ewigen, endlosen Stunden hatte sie über Durst geklagt, und Mario war aufgestanden, hatte einen Blecheimer ergriffen und wortlos die Hütte verlassen. Tina hatte ihm nachgestarrt, und ihr waren Tränen der Wut und Enttäuschung in die Augen gestiegen, als ihr aufging, daß sie keine Chance hatte,
seine Abwesenheit zur Flucht zu nutzen. Sie würde keine zehn Meter weit kommen; schon den Weg hierher in der vergangenen Nacht hatte sie nur bewältigt, weil Mario sie stützte, zog und schob. Allein hätte es keinen Sinn, es auch nur zu versuchen.
    Sie schaffte es zumindest, sich so weit aufzurappeln, daß sie bis zu einem der beiden Fenster kriechen und sich am Fensterbrett hinaufziehen konnte. Als sie in der Nacht angekommen waren, hatte sie wegen der Dunkelheit und ihrem völligen Aufgehen in Angst und Schmerzen nichts von der Umgebung wahrgenommen. Jetzt schaute sie hinaus, kniff blinzelnd die Augen vor der gleißenden Helligkeit zusammen. Was sie sah, deprimierte sie tief. Er hatte sie in eine gottverlassene Einsamkeit geschleppt, in eine Einöde aus Felsen, braunem, kurzem Gras, aus Bergen und Wäldern. Weit und breit schien sich kein Haus, keine zweite Hütte zu befinden. Ein schmaler Felsenpfad führte weiter aufwärts in die Berge. Möglicherweise kamen dann und wann Wanderer vorbei, aber sicher nicht besonders häufig. Und schon gar nicht in dieser mörderischen Hitze, die Tina zwar in der steinernen Hütte und wegen ihres Fiebers nicht unmittelbar spüren konnte, die ihr die flimmernde Luft draußen, die völlige Reglosigkeit der Zweige, das verdorrte Gras jedoch verrieten.
    Sie schleppte sich zu ihrem Platz zurück, wurde dort für ihre Kühnheit mit einem minutenlangen Anschwellen der Schmerzen bis zur Unerträglichkeit bestraft. Dabei erstaunte es sie, daß sie nicht ununterbrochen heulte. Zeitlebens hatte sie wegen jeder Kleinigkeit sofort zu weinen angefangen. Nun, da sie zum erstenmal in einer wirklich verzweifelten Lage war, blieben ihre Augen trocken.
    Schließlich war Mario zurückgekehrt, den Eimer voller Wasser, das er, wie Tina vermutete, aus einem Bach geholt hatte. Mit einer Schöpfkelle füllte er einen Becher. Sie
trank in hastigen, durstigen Zügen. Das Wasser schmeckte überraschend gut, sehr rein und frisch. Es stärkte ihre Lebensgeister so weit, daß es ihr gelang, für eine halbe Stunde tief und traumlos zu schlafen.
    Aber später wurde dann alles wieder schlimmer, und nun war es erneut Nacht, und sie saßen noch immer in dieser elenden Hütte und warteten auf etwas, wovon Tina nicht wußte, was es war, und Mario, wie es schien, ebenfalls nicht. Er hatte auf der hölzernen Bank am Tisch - alles war hier aus Holz: das spärliche Mobiliar, der Boden, die Pfeiler, die das Dach trugen - Platz genommen, stützte den Kopf in beide Hände und starrte vor sich hin. Er roch durchdringend nach Schweiß. Sie bewegte sich, weil ihr linker Fuß eingeschlafen war, und stöhnte dabei vor Schmerzen auf. Ihr rechter Knöchel war dick geschwollen, die Haut darüber spannte und glänzte.
    »Mario«, sagte sie. Wieder regten sich Überlebenswille und Kampfgeist nach einer Phase der Ergebenheit, vielleicht hervorgerufen durch das unvermittelte Aufheulen des Schmerzes. »Mario, wir... wir werden irgendwann etwas zu essen brauchen.« Nicht, daß sie diesen Punkt im Moment für relevant hielt, obwohl sich ihr Magen wie hohl anfühlte. Aber sie mußte irgend etwas sagen, mußte ihn aus seinem Schweigen reißen. Hatte er vor, hier zu sitzen, bis sie beide tot umfielen?
    »Mario, außerdem muß ich einen Arzt haben. Mein Fuß sieht ziemlich schlimm aus. Ich glaube auch, ich hab’ Fieber.«
    Er blickte noch immer nicht hoch.
    »Mario«, sagte sie erneut, leise und eindringlich, »worauf warten wir denn hier?«
    Endlich hob er den Kopf und sah sie an. Sie erschrak vor der Leere, der Ausdruckslosigkeit seiner

Weitere Kostenlose Bücher