Die Suende der Engel
Telefon ging.
»Herr Weiss, ich...«
»Herr Beerbaum, ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich vor ein paar Stunden aus München zurückgekehrt bin...«
Die Aussage war von entwaffnender Harmlosigkeit, aber in Phillips Kopf schrillten alle Alarmglocken. Seine Haut wurde feucht und begann entlang der Wirbelsäule zu kribbeln.
»Ja?« sagte er.
»Ich habe Erkundigungen eingezogen.« Es schien Michael nicht einmal peinlich, dies zuzugeben. »Mario ist nicht Ihr einziger Sohn, Herr Beerbaum. Er hat einen Zwillingsbruder. Und der sitzt wegen versuchten Totschlags in einer psychiatrischen Klinik. Und ich erreiche meine Tochter nicht!« Michaels Stimme war sehr laut geworden. Phillip, obwohl zu Tode erschrocken und wie gelähmt, kombinierte fast mechanisch, was in Weiss vorging: Wenn der eine Bruder, dann vielleicht auch der andere...
Und noch etwas schoß ihm durch den Kopf: Er kann nicht wissen, in welcher Klinik Maximilian einsitzt. Er kann daher auch nicht wissen, daß er verschwunden ist. Und er darf es auf gar keinen Fall erfahren. So, wie der beisammen ist, löst er eine landesweite Panik aus.
»Herr Beerbaum«, Michael klang leiser, aber dafür nur noch gefährlicher, »ich wäre jetzt schon auf dem Weg nach Nizza, aber ich kann nicht fort. Ein junges Mädchen wurde ermordet. Dana Graph, Tinas beste Freundin. Ich kann die Mutter im Augenblick nicht allein lassen.«
Einen entsetzlichen Moment lang war Phillip überzeugt, diese Tat stünde in einem Zusammenhang mit Maximilians Verschwinden, gehe auf das Konto seines Sohnes, und vor seinem inneren Auge stieg die Vision einer grausigen Blutspur des amoklaufenden Maximilians quer durch Europa auf.
»Wie... ich meine... wer...«
»Wir wissen noch nichts Genaues. Sie wurde dicht hinter der Grenze bei Mühlhausen, auf französischer Seite, gefunden. Ermordet, zuvor mißbraucht.«
Ironischerweise löste das Wissen um eine Vergewaltigung, die für das Opfer zusätzliche Qual bedeutet haben mußte, bei Phillip Erleichterung aus. Damit war Maximilian außer Verdacht. Er vergewaltigte nicht, das hätte, laut Professor Echinger, nicht in sein Krankheitsbild gepaßt. Maximilian tötete nur. Nur!
Er entspannte sich etwas. »Mir tut das sehr leid«, sagte er. Natürlich tat es ihm wirklich leid. Aber er hatte so verdammt viele eigene Probleme...
»Hören Sie zu«, sagte Michael, ohne auf die anteilnehmende Bemerkung einzugehen, »Sie werden mehr Ärger bekommen, als Sie je zu bewältigen in der Lage sind. Ich mache mir große Sorgen, und ich will Kontakt mit meiner Tochter. Ich möchte ihre Stimme hören, und sie soll mir
sagen, daß es ihr gutgeht. Es ist mir völlig gleich, auf welche Weise Sie das bewerkstelligen, was Sie anstellen, um sich mit Ihrem Sohn in Verbindung zu setzen, aber sagen Sie ihm, er soll dafür sorgen, daß mich Tina umgehend anruft. Haben Sie das verstanden?«
»Ich...«
»Ich muß noch einige Stunden bei Frau Graph bleiben. Sie nehmen jetzt einen Stift und ein Stück Papier, und ich diktiere Ihnen die Nummer, unter der ich hier zu erreichen bin.«
»Ich denke«, sagte Phillip, der sich langsam aus seiner Erstarrung löste, »Sie ändern zunächst einmal Ihren Ton mir gegenüber.«
Michaels Stimme und sein Tonfall waren die eines Mannes, den eine Extremsituation dazu gebracht hat, seine Maßstäbe und Konventionen über Bord zu werfen, sich einen Dreck um gepflegten Stil, um Höflichkeit und Anstand zu scheren. In ihm brach etwas durch, wovon er nicht einmal geahnt hatte, daß es in ihm lag.
»Herr Beerbaum, ich werde noch heute im Laufe des Abends mit meiner Tochter sprechen, und ich wiederhole, es ist mir egal, wie Sie das bewerkstelligen. Sie haben viel Mühe darauf verwendet, sich eine neue Existenz aufzubauen und jeden Hinweis auf Ihren zweiten Sohn vor Ihrer Umwelt zu vertuschen. Ich schwöre Ihnen, daß ganz Hamburg von der Sache erfahren wird, und egal, wohin Sie dann gehen, ich werde dafür sorgen, daß man es auch dort erfährt. Wenn Sie also weiterhin in Frieden leben wollen, dann setzen Sie jetzt alle Hebel in Bewegung, um den Kontakt zu Tina herzustellen!«
»Das ist Erpressung«, sagte Phillip.
Von Michael kam keine Antwort, aber in dem Schweigen lag hörbar eine eiserne Unnachgiebigkeit.
»Wie stellen Sie sich denn vor, wie ich die beiden erreichen
soll?« fragte Phillip nervös. Der Schweiß lief ihm in einem feinen Rinnsal den Rücken hinab. Er fühlte sich gehetzt, in die Enge getrieben, wie ein Tier in der
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