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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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trug schöne Kleider, und ihre blonden Haare waren sorgfältig frisiert und glänzten im Licht. Sie roch gut und hatte das süßeste Lächeln, und abends setzte sie sich zu ihren Kindern ans Bett und nahm sie in die Arme und gab ihnen das Gefühl, einzig ihnen zu gehören und sie zu schützen vor allem Bösen in der Welt; einzig durch ihr Dasein, durch ihr Unberührtsein von allem, was nicht makellos sauber war in dieser Welt. Sie hatte diese Illusion gründlich zerstört, und nicht lange nach der Affäre mit Andrew Davies fingen ihre Söhne an, »Janet« zu ihr zu sagen, und sie ließen trotz Tränen und Vorwürfen von ihrer Seite nicht mehr davon ab.
    Er war wieder am Fenster angelangt, auf seinen konfusen Zickzackwegen durch das Zimmer, und sah hinaus. Es war zehn Uhr am Abend, aber es wollte noch immer nicht richtig dunkel werden. Diese hellen Mittsommernächte hier oben, dicht an der Grenze nach Skandinavien - er mochte sie nicht besonders. Sie beunruhigten ihn mit ihrem Licht, ihren Stimmen, ihrer Schlaflosigkeit. Er mochte die schweigenden, schwarzen Winternächte, in denen ein kalter Stern am Himmel stand, in denen sich Finsternis und Schnee beschützend über alle Verwundungen und Ängste breiteten. Wie war jetzt wohl die Nacht in Südfrankreich? Sicher dunkler als hier, von samtiger Schwärze.
    Er fühlte sich seinem Bruder so nah. Das war immer so gewesen, die gemeinsame Kindheit hindurch, aber auch in den Jahren der Trennung. Vielleicht konnte einfach
nichts sie wirklich trennen, seit jener lang vergangenen Zeit, da sie dicht aneinanergepreßt in Janets Leib zu leben begonnen hatten. Manchmal, in der Nacht, konnte Maximilian Marios Herzschlag spüren, konnte an Gleichmaß und Tempo erkennen, ob der Bruder ruhig schlief oder ob ihn böse Träume quälten, oder ob er sich wach hin- und herwälzte. Er hatte das nie überprüft, aber manchmal hatten sie einander am nächsten Tag gesehen oder miteinander telefoniert, und es hatte Maximilian nie überrascht, wenn sich seine Empfindungen dann bestätigten.
    »Ich habe kein Auge zugetan letzte Nacht, vielleicht lag es am Vollmond, ich konnte keine Sekunde schlafen...«
    »Ich weiß.«
    Auch jetzt schlief Mario nicht. Es war vielleicht noch zu früh am Abend, aber er würde die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen, das spürte Maximilian. Mario sah, genau wie er, Janet in Andrews Armen, und das raubte ihm die Ruhe.
    Und vielleicht gab es noch mehr, was ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.
    Maximilian war sicher, daß Mario nicht allein war. Von Anfang an hatte er gespürt, daß ihm sein Bruder etwas unterschlug, als er von seiner Reise in die Provence erzählt hatte. Er hatte es in seinen Augen erkennen, in seiner Stimme hören können. Um hauchfeine Nuancen nur waren Veränderungen aufgetreten, aber im wechselseitigen Wahrnehmen von Strömungen im anderen waren beide Brüder wie zwei hochempfindliche Seismographen. Es gab keinen letzten, endgültigen Beweis, aber Maximilian war sicher, daß Mario mit einem Mädchen zusammen war.
    Er konnte sie sich vorstellen: zierlich, zart. Feine Gesichtszüge. Lange blonde Haare. Ein bißchen wie die junge Janet, Verletzbarkeit und Unschuld ausstrahlend.
Doch dahinter, kaum auf den ersten Blick zu erkennen: ein unbändiger Hunger nach Leben, eine optimistische Bereitschaft, auch von verbotenen Früchten zu kosten. So waren sie alle. Er wußte es. Aber wußte es sein Bruder? Und wenn nicht, wann würde er es bemerken?
    Er riß die Tür zum Gang auf, jetzt doch der Hoffnung erliegend, damit den Lauf seiner Phantasie zu stoppen. Vielleicht war er verrückt. Vielleicht konnte er seinen Empfindungen schon lange nicht mehr trauen. Er bekam Medikamente, Psychopharmaka, zur »Ruhigstellung«, wie es hieß. Er haßte diese Tabletten. Sie legten sich wie ein schwerer Schleier über sein Gemüt, benebelten ihn, ließen ihn alles ebenso spüren wie vorher, nur daß es sich hinter einem Vorhang abspielte, der verhinderte, daß er in Kontakt treten konnte mit seinen eigenen Gefühlen. Es war, als werde er von sich selbst getrennt, und manchmal war er darüber fast wahnsinnig geworden. Dann hatten sie ihm Spritzen gegeben, und es war noch schlimmer geworden. Aber ohne Medikamente begann er inzwischen schon nach kurzer Zeit unkontrolliert zu zittern. Er fragte sich, wie viele Leute gesünder in psychiatrische Kliniken hineingingen, als sie dann, dank der Tabletten, wieder herauskamen. Er hatte ganze Nächte im verzweifelten Bemühen verbracht, durch

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