Die Suende der Engel
den Nebel zu seiner eigenen Unruhe vorzudringen,und was er dabei empfunden hatte, wünschte er seinem ärgsten Feind nicht.
Der Flur war dunkel, da es hier keine Fenster gab, nur ein bläuliches Notlicht brannte. Scheinbar schliefen inzwischen alle. Um neun Uhr wurden die Schlaftabletten verteilt an jeden, der sie brauchte oder wollte, und meist herrschte bald nach diesem Zeitpunkt Ruhe im Haus. Echinger arbeitete sicher noch, der eine oder andere diensthabende Arzt vielleicht auch. Wer in den nächsten
Tagen keine Schicht hatte und nicht in der Klinik wohnte, war nach Hause gefahren.
Maximilian schaute auf seine Uhr. Halb elf. Seine Unruhe wuchs. Er konnte nicht weg aus dieser einsamen Gegend, nicht um diese Zeit. Es gab eine Bushaltestelle, etwa drei Kilometer entfernt, aber dort fuhr jetzt kein Bus mehr. Morgen früh um sieben ging der nächste. Über sämtliche Dörfer konnte man mit ihm bis Niebüll schaukeln und von dort den Zug nach Hamburg nehmen.
Er kehrte in sein Zimmer zurück, schloß die Tür hinter sich. Mit zitternden Händen zog er eine Schublade im Schrank auf, kramte unter einem Stapel Unterwäsche herum. Seitdem er Freigänger war, bekam er Geld ausgehändigt, sparsam rationiert allerdings, und er mußte Rechenschaft darüber ablegen, wofür er es ausgab. Dennoch war es ihm im Verlauf des vergangenen Jahres gelungen, zweihundert Mark zusammenzusparen. Häufig hattte er sich Geld geben lassen für einen Cafebesuch, war dann aber entweder von seinem Bruder eingeladen worden oder hatte überhaupt verzichtet. Für Klinikverhältnisse verfügte er damit über ein Vermögen. Und es gab noch etwas; etwas, das einen weit größeren Schatz darstellte als das Geld: einen Paß. Einen abgelaufenen Paß zwar, aber sein Gesicht blickte ihn von dem Photo entgegen. Der Ausweis lautete auf den Namen Mario Beerbaum. Sein Bruder hatte ihn ihm in die Klinik gebracht.
Wann in den letzte Stunden der Plan in ihm gereift war, nach Duverelle zu fahren, wußte er nicht. Im Grunde hatte es auch gar nichts mit einem Plan, mit einer Überlegung zu tun. Er folgte einem Drängen, folgte einer Stimme, die ihn rief. Die namenlose Unruhe, die den ganzen Tag auf ihm gelegen und ihn mit alten Bildern bedrängt hatte, war einem klaren Wissen darum gewichen, was er tun mußte. Ungeachtet der Folgen, und die
Folgen würden schwerwiegend sein, das wußte er. Für Anfang August war seine Entlassung vorgesehen, aber von diesem Zeitpunkt trennten ihn noch fast acht Wochen. Wenn er jetzt davonlief, riskierte er alles. Echinger mußte sein Verschwinden sofort anzeigen, sonst drohten ihm ebenfalls Strafen, schlimmstenfalls konnte er sogar seine Zulassung verlieren. Er würde den Moment hinauszögern, aber es gab Mitwisser genug im Haus, und irgendwann käme er nicht mehr darum herum, Meldung zu erstatten. Von dem Moment an würde man ihn mit Haftbefehl suchen, und seine Entlassung im August konnte er wahrscheinlich vergessen. Er mußte es trotzdem tun, und er würde es tun.
Er setzte sich an das Fenster und wartete, daß der Morgen kam.
MITTWOCH, 7. JUNI 1995
Als Tina erwachte, war es noch dunkel, und als sie das Licht anknipste und auf den Wecker sah, stellte sie fest, daß es drei Uhr morgens war. Sie fragte sich, was sie geweckt hatte. Dann hörte sie es: Irgendwo im Haus spielte Musik, leise zwar, aber sie mußte dennoch bis in ihren Schlaf vorgedrungen sein. Es war eine dramatische, aufwühlende, unter die Haut gehende Musik, selbst aus dieser Entfernung. In dieser provençalischen Nacht wirkte sie deplaziert und quälend.
Tina stand auf, zog ihren Bademantel an und verließ das Zimmer. Langsam ging sie die Treppe hinunter. Vor Marios Zimmertür blieb sie stehen. Zuerst hatte sie gemeint, die Musik käme von dort, aber nun stellte sie fest, daß der Klang unten im Wohnzimmer ertönte. Zögernd tappte sie die zweite Treppe hinunter.
Die Wohnzimmertür war nur angelehnt, ein Streifen Licht fiel heraus in den Flur. Die Musik klang nun lauter.
»Mario?« fragte Tina. Sie bekam keine Antwort. Sie stieß die Tür auf. Mario stand am Fenster, hatte ihr den Rücken zugewandt und starrte hinaus in die Nacht. Er war vollständig bekleidet, trug Jeans, T-Shirt, Schuhe und Strümpfe. Er hatte nur die Stehlampe eingeschaltet, die das Zimmer in ein Dämmerlicht tauchte. Aus dem CD-Spieler ertönte die eindringliche Musik. Tina schauderte plötzlich.
»Mario«, sagte sie erneut. Er hörte sie noch immer nicht.
Sie räusperte sich.
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