Die Suende der Engel
»Mario!«
Er fuhr herum. Sie sah, daß sein Gesicht bleich war, die Augen darin schienen noch dunkler, die Brauen hoben sich hart von der fahlen Haut ab.
»Was tust du denn hier?« fragte er nach einem Moment des überraschten Schweigens.
»Das sollte ich dich fragen! Es ist drei Uhr nachts. Warst du überhaupt im Bett?«
Er schaute an sich hinunter, als müsse er versuchen, sich mit Hilfe seiner Kleidung zu erinnern. »Nein«, sagte er dann, »aber ich gehe oft spät ins Bett, weil ich nur schwer einschlafen kann.«
»Aber drei Uhr nachts finde ich ein bißchen zu spät.«
Mario wußte darauf nichts zu erwidern. Er trat zum CD-Spieler und schaltete ihn aus. Die Stille kam so unvermittelt, daß sie beklemmend wirkte.
Mario strich sich über die Haare. Er sah erschöpft aus, als habe er eine große Anstrengung hinter sich. »Ich leide seit Jahren darunter«, sagte er entschuldigend, »unter Schlafstörungen, meine ich. Und irgend etwas muß ich tun, also höre ich Musik. Es tut mir sehr leid, daß ich dich damit geweckt habe.«
»Du mußt dich nicht entschuldigen. Es ist nur... ich meine, hast du mal versucht herauszufinden, woran das liegt? In deinem Alter ist es doch nicht normal, daß man nicht schlafen kann.«
»Oh, ich... ich denke, ich bin einfach ein nervöser Typ.« Er wich aus, zeigte deutlich, daß ihm dieses Gespräch nicht im mindesten behagte. Tina hatte den Eindruck, daß sie ihm auf die Nerven ging. Er wirkte wie ein in die Enge getriebenes Tier. Sie beschloß, nicht weiter zu forschen.
»Na ja, ich werde jedenfalls jetzt weiterschlafen«, sagte sie leichthin und dachte bei sich: Gott, sieht er elend aus! So angespannt, so traurig. Schuldgefühle regten sich in
ihr; sie hatte sich den ganzen Tag über reserviert gezeigt, war bis zum Abend nicht aufgetaut. Sie berührte vorsichtig seinen Arm.
»Es ist schön hier«, sagte sie, »ein bißchen einsam, aber schön. Ich war verärgert, weil ich mir alles anders vorgestellt hatte, aber jetzt ist es okay. Wirklich.«
Er lächelte. »Schön, daß du das sagst, Tina.«
Sie standen dicht beieinander, Mario blaß und verletzlich, Tina sehr jung und scheu. Dennoch war sie es, die die Hand hob und ihm über die Wange strich, ihre Finger in seinen dunklen Haaren vergrub.
»Mario«, sagte sie leise. Zum erstenmal in ihrem Leben begegnete sie dem Gefühl, einem Mann ganz nahe sein zu wollen, fing an zu begreifen, was es hieß, einen Mann zu begehren - mit der Seele, dem Körper, mit allen Gedanken und allen Sehnsüchten.
»Wenn du’s einmal gemacht hast«, hatte Dana immer prophezeit, »kannst du nie wieder damit aufhören.«
Am Ende hatte sie wohl recht. Es gab kein vergleichbares Gefühl von dieser Intensität. In Marios Augen sah sie etwas von der gleichen Flamme, die in ihr brannte, und wußte, daß er, was immer vorher gewesen war, was immer später kommen mochte, in diesem Moment so fühlte wie sie, und daß er sich nicht dagegen würde wehren können.
Sie küßten einander ohne jene distanzierte Keuschheit, die bislang wie eine Mauer zwischen ihnen gestanden hatte. Marios Hände glitten unter Tinas Bademantel. Sie trug nur Slip und T-Shirt; das Hemd war zu kurz und ließ den Bauch frei, der sich mit einer Gänsehaut überzog, als Marios Hände ihn streiften.
Irgendwie zog sie Mario das T-Shirt aus, das er trug. Seine Haut war warm und trocken und schmeckte ein wenig nach der Zedernseife, die oben im Bad lag. Sein
Herz schlug wild und hämmernd. Er zog Tina mit sich hinunter auf den Boden, sie immer noch küssend und streichelnd, unverhohlen seine Gier nach ihr zeigend. Als sich sein Gewicht auf sie senkte und sie seinen Atem dicht an ihrem Gesicht spürte, dachte sie: Nie wieder wird etwas so großartig sein, nie wieder in meinem Leben wird...
Und in diesem Moment richtete sich Mario auf und starrte sie an, und in seinem Blick standen Erschrecken und - Abscheu. Und es war dies, wovon sie sofort wußte, daß es nie wieder so sein würde: Nie wieder würde jemand auf sie herabsehen mit einem solchen Ausdruck von Ekel in den Augen, mit so viel Verachtung, mit diesem angewiderten Zug um den Mund.
Er rollte von ihr weg und blieb schwer atmend neben ihr auf dem Rücken liegen.
Sie verstand nicht, was passiert war. Sie hatten kein Wort gesprochen, sie konnte nichts Falsches gesagt haben. Was war schiefgelaufen? Sie setzte sich auf, zog ihr T-Shirt hinunter, wickelte den Bademantel fester um sich, ordnete mit den Fingern ihre Haare. Sie blickte
Weitere Kostenlose Bücher