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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Ausfallstraßen zu begeben und den Daumen herauszustrecken. Doch kaum hatte er sich hingesetzt, da sank schon sein Kopf zur Seite, der Schlaf überwältigte ihn in weniger als einer Minute. Im Traum sah er seinen Zwillingsbruder, der ihn aus großen, gequälten Augen anblickte. Die Stunden vergingen.

DONNERSTAG, 8. JUNI 1995
    In dieser Nacht lag Tina wach, lauschte auf das leise Spiel des Windes draußen in den Zweigen der Bäume, atmete flach wegen der Hitze, die auf der Dachkammer lastete, und gestattete es sich zum erstenmal, den Gedanken, der ihr seit Tagen schattenhaft im Kopf herumgeisterte, tatsächlich zu denken: Mit Mario stimmte etwas nicht.
    Die ganze Zeit über hatte sie versucht, vernünftige Erklärungen für sein Verhalten zu finden. Seine Nonstopgewalttour von Hamburg bis in die Provence - war das so ungewöhnlich? Er hielt sich eben nicht gern zwischendurch auf, wollte zum Ziel gelangen, ohne nach rechts oder links zu blicken. Das mochte ungemütlich sein und strapaziös, aber es war nicht psychopathisch. Er hatte sie belogen - sanfter gesagt: beschwindelt -, was die Lage des Ferienhauses betraf. Gut, aber er hatte eben unbedingt hierher gewollt, hatte gefürchtet, daß sie sich querstellte, wenn sie erfuhr, daß es nicht die von ihr ersehnten Badeferien sein konnten. Also hatte er die Tatsachen ein wenig manipuliert. Statt in einem Vorort von Nizza befanden sie sich nun ein ganzes Stück nördlich von Grasse, am Rande der Berge, in einem winzigen Dorf, in dem das Leben unter der Sommersonne träge dahinlief, auf dem Marktplatz nur ein paar alte Veteranen mit ihren Baskenmützen auf dem Kopf und den unvermeidlichen Gauloises im Mund herumsaßen, Touristen höchstens einmal auf der Durchfahrt zu sehen waren, Ziegen- und
Schafherden über die Hänge zogen und kleine Echsen zwischen den weißen Felsen dösten. Zweifellos hatte dies alles seine Schönheiten, aber Tina fand, er hätte es ihr offen sagen müssen. Sie war ihm noch immer böse deswegen, aber sie konnte daraus keinen Hinweis auf bedenkliche seelische Abgründe konstruieren. Die getrennten Schlafzimmer - lieber Himmel, sollte sie nicht froh sein, daß er sich nicht als hemmungsloser Draufgänger entpuppt hatte? Woher sollte er wissen, daß sie sehr gerne das Bett mit ihm geteilt hätte? Er wollte sie weder bedrängen noch überrumpeln, und das sprach für, nicht gegen ihn.
    Nach den Ereignissen der vergangenen Nacht waren ihre Zweifel stärker geworden, aber noch immer hatte sie versucht, sie mit einer Unmenge scheinbar rationaler Gegenargumente zu verscheuchen. Vielleicht hatte Mario Angst vor ihrem Vater? Vielleicht auch Angst vor einer Bindung, die er in dieser Intensität noch nicht wollte? Vielleicht, aus irgendeinem Grund, Angst vor der Sexualität? Hatte ein junger Mann nicht das Recht dazu? Doch so überzeugend alle diese Gründe in anderen Fällen gewesen wären - was Mario anging, so spürte Tina, daß sie sich etwas vormachte. Irgend etwas ging von ihm aus, das sonderbar war, beklemmend. Lag es in seinen Augen, in seiner Stimme? Es ließ sich nicht greifen und schien doch ständig da zu sein.
    In dieser Nacht, als Tina wach lag und ganz leise von unten erneut Musik und ruhelos auf und ab gehende Schritte hörte, gestand sie sich, daß sie sich vor Mario fürchtete.
    Eigenartig, daß ihr daheim in Hamburg nichts aufgefallen war. Obwohl ihr jetzt, im nachhinein, bewußt wurde, daß sie sich an seiner steifen Distanziertheit durchaus gestört hatte. Immer hatte es den Anschein gehabt, als
könne er gar nicht genug Abstand zwischen sich und sie bringen.
    Aber ich war ja so ein unerfahrenes Huhn, dachte sie nun wütend, ich konnte es einfach nicht einordnen!
    Dana hatte behauptet, Mario sei nicht normal, aber gerade das hatte Tina darin bestärkt, Mario ganz besonders normal zu finden. Sie wußte, auf welch verrückte Typen Dana flog; es schien ihr daher ein gutes Zeichen, daß sie Mario ablehnte.
    Dana... Selten hatte Tina die Freundin so vermißt wie in dieser Nacht. Sie hätte ein Vermögen gegeben, jetzt mit ihr reden zu können. Ihr optimistisches Lachen zu hören und in ihre lebhaft funkelnden Augen zu blicken.
    »Schieß ihn in den Wind«, würde sie sagen, »der Junge hat ein paar ziemlich eigenartige Probleme, und du bist nicht dazu da, sie zu lösen. Also schick ihn in die Wüste und such dir etwas Besseres!«
    Tina überlegte, ob sie Dana einfach anrufen sollte. Das Gute an Danas exzentrischem Lebensstil und an dem ihrer

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