Die Suende der Engel
auf.«
»Unserer längst vergangenen Jugend!«
Er warf ihr lächelnd einen Seitenblick zu. »Komisch, daß du das sagst. Gerade heute habe ich das Gefühl, als wäre es gar nicht so lange her. Als wäre es erst gestern gewesen, daß wir uns zu unseren heimlichen Rendezvous an verschwiegenen Plätzen auf dem Campus trafen und uns alles sehr aufregend und geheimnisvoll vorkam.«
Sie sah ihn nicht an. Sie schaute aus dem Fenster, betrachtete vorüberfliegende Häuser, Felder, Wiesen. Hohes, wehendes Junigras bog sich im Abendwind, glänzte rötlich im Schein der Sonne.
Es ist nicht nur er, dachte sie, es ist die Heimat. Ich bin zu Hause.
Ein warmes, leichtes, jugendliches Gefühl breitete sich
in ihr aus. Es war kein Gedanke, der aus dem Augenblick geboren wurde, es war der Augenblick, der den lange schlummernden Gedanken aufweckte.
»Ich will hierbleiben«, sagte sie.
Für den Bruchteil einer Sekunde schlingerte der Wagen, dann hatte sich Andrew wieder gefaßt.
»Hierbleiben?« fragte er.
»In England auf jeden Fall. Bei dir, wenn du willst.« Immer noch sah sie ihn nicht an. »Ich werde Phillip um die Scheidung bitten.«
Dana hatte Glück gehabt. Von Hamburg aus hatte eine junge Frau sie bis Freiburg mitgenommen. Sie war Studentin, wie sie erzählte, und hatte ihre Eltern besucht, die auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein lebten. Sie erinnerte Dana ein wenig an Karen, weil sie auch kurze, rote Haare hatte und ziemlich ausgebeulte Klamotten trug. Sie hieß Patricia und studierte Germanistik.
»Und du willst nach Südfrankreich?« fragte sie. »Die ganze Strecke per Anhalter? Da hast du dir ja viel vorgenommen!«
»Ich bin schon bis an die Costa del Sol gefahren per Autostopp«, sagte Dana, »und auch sonst noch Gottweißwohin. Ich bin noch immer hingekommen, wohin ich wollte.«
»Das ist aber nicht ganz ungefährlich«, meinte Patricia, »vor allem...« Sie warf einen raschen Blick auf Dana, sprach dann aber nicht weiter.
Dana seufzte. »Ja?«
»Also, nimm’s mir nicht übel, aber in der Aufmachung provozierst du es schon ein bißchen, daß man dich belästigt.«
Dana sah an sich hinunter. Sie trug ihre für einen warmen Sommertag übliche Alltagskleidung, einen schwarzen
Minirock, ein hellgrünes T-Shirt mit dem Schriftzug MONTE CARLO über der Brust, ein paar schmale goldene Armreifen an beiden Handgelenken, große Kreolenohrringe, schwarze Sandalen mit - für ihre Verhältnisse - vergleichsweise flachen Absätzen. Als sie aufgebrochen war, hatte es gerade zu regnen begonnen, und sie hatte sich noch eine Jeansjacke um die Schultern gehängt, aber dann war es immer sonniger geworden, und sie hatte dieses Kleidungsstück wieder abgelegt.
»Ich finde mich nicht provozierend«, sagte sie.
Patricia lächelte friedlich. »Okay, das ist Ansichtssache. Ich meine nur, du weißt, wie die Männer sind. Du zeigst ein bißchen was von deinen Beinen oder deinem Busen, und schon behaupten sie, du hättest um eine Vergewaltigung förmlich gebettelt.«
»Das ist aber nicht mein Problem. Ich ziehe an, was ich mag.«
Patricia ging nicht weiter darauf ein. Sie erzählte ein bißchen von ihrem Studium und von dem Heimweh, mit dem sie sich ständig herumschlug. Am Abend, als sie sich bereits kurz vor Freiburg befanden, fragte sie: »Wo wirst du heute nacht schlafen?«
»Ich hoffe, ich finde schnell eine Möglichkeit zur Weiterfahrt. Dann schlafe ich im Auto.«
»Hast du es denn so eilig? Weißt du, ich habe nur eine winzige Wohnung, aber ich könnte dir ein ganz bequemes Sofa anbieten. Das ist besser als irgendein Beifahrersitz.«
Dana schwankte einen Moment, ob sie den Vorschlag annehmen sollte. Der Gedanke an ein gemütliches Abendessen, an ein Gespräch mit dieser sympathischen Frau, vor allem aber an ein Bett schien äußerst verlockend. Aber dann kam ihr Tina wieder in den Sinn. Sie wußte, jeder würde sie auslachen, wenn sie von ihren Empfindungen sprach. Daß sie meinte zu spüren, wie Tina die
Arme nach ihr ausstreckte. Daß sie eine Gefahr zu wittern glaubte, die sich unaufhaltsam näherte. Daß sie... nein! Sie verbot es sich, weiterzudenken. Es war lächerlich. Sie war völlig neurotisch, und ein Psychologe hätte in ihrer ganzen Beziehung zu Tina ein höchst kompliziertes Geflecht von Abhängigkeiten, Kompensationsmechanismen und Projektionen entdeckt. Sie hatte sich an diese Freundin geklammert, weil sie keinen Vater und eine ziemlich labile Mutter hatte, und nun drehte sie durch, weil sie
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