Die Suende der Engel
Mutter war, daß man zu jeder Tages- und Nachtzeit dort anrufen konnte, ohne je auf Ärger oder Unverständnis zu stoßen. Bei Karen war die Wahrscheinlichkeit, daß man sie aus dem Tiefschlaf holte, bei Tag wie bei Nacht ohnehin gleich groß, und sie wurde nie böse. Und Dana war so durchdrungen von der Bereitschaft, das Leben spannend und aufregend zu finden, daß ein Telefonklingeln zu unorthodoxer Stunde nur ihre Neugier und Abenteuerlust reizen, nicht aber ihren Unmut hervorrufen würde.
Leise stand Tina auf, schlüpfte in ihren Bademantel und tappte auf bloßen Füßen durch das Zimmer. Im Grunde gab es keine Veranlassung, so leise zu sein; Mario hielt sich im Wohnzimmer auf und spielte seine Musik. Er würde sie nicht bemerken, aber sie mochte kein Risiko eingehen. Wenn er jetzt plötzlich auftauchte, konnte sie
allerdings noch behaupten, sie habe ins Bad gewollt. Wenn er sie beim Telefonieren überraschte, wurde es schwieriger. Was sollte sie sagen, mit wem sie da nachts zwischen zwölf und ein Uhr sprach?
Eigentlich muß ich gar nichts sagen, dachte sie trotzig, ich kann telefonieren, wann ich will und mit wem ich will.
Sie schlich die Treppe hinunter. Einige Stufen knarrten, und sie hielt den Atem an, aber nichts rührte sich; nur die Musik und Marios unaufhörliches Auf und Ab im Wohnzimmer klangen durch die nächtliche Stille. Ungehindert gelangte sie in den ersten Stock.
Das Telefon, das Mario ihr noch in der Nacht der Ankunft gezeigt hatte, befand sich in einem kleinen Arbeitszimmer gleich neben dem Bad. Sein Vater, so hatte Mario erklärt, habe sich diesen Raum eingerichtet, um auch im Urlaub ungestört arbeiten zu können; er sei von seinem Büro daheim nie wirklich loszueisen gewesen. Tina erinnerte sich plötzlich, daß er noch etwas Eigenartiges hinzugefügt hatte. »Workaholics benutzen ihre Arbeit, um vor sich oder vor irgendeiner Erkenntnis davonzulaufen. Mein Vater versteckt sich vor der Gefahr, die Welt sehen zu müssen, wie sie ist - und vor der Notwendigkeit, mit ihr fertig zu werden.«
Sie war zu erschöpft gewesen, um sich Gedanken zu machen, aber jetzt dachte sie: Seltsam. Was hat er damit genau gemeint?
An der Treppe, die ins Erdgeschoß hinunter führte, blieb sie noch einen Moment stehen und lauschte, aber es hatte sich nichts verändert. Rasch huschte sie in das kleine Arbeitszimmer, schloß die Tür, lehnte sich aufatmend von innen dagegen. Dann sah sie den Schreibtisch und hatte Mühe, einen Laut der Überraschung und des Schreckens zu unterdrücken:
Das Telefon war verschwunden.
Hastig schaute sie sich im Zimmer um. Sie wußte genau, daß der Apparat auf dem Schreibtisch gestanden hatte, aber Mario mochte telefoniert und ihn danach an irgendeiner anderen Stelle plaziert haben. Doch sie konnte ihn in keinem Winkel, keiner Ecke, nicht im Regal und nicht auf dem Schrank - selbst dort sah sie absurderweise nach - entdecken. Schließlich kam sie auf den Einfall, zu überprüfen, ob das Kabel überhaupt eingestöpselt war. Sie entdeckte den Anschluß hinter dem Schreitisch. Er war leer.
Panik stieg in ihr auf, überflutete sie und ließ ihre Haut kribbeln. Sie preßte die Fingernägel der rechten Hand in den Daumenballen der linken, und der scharfe Schmerz bremste sofort ihre aufkeimende Hysterie.
Nimm dich zusammen, befahl sie sich, du bist hier nicht in einem Gruselstück. Niemand hat versucht, dich zu ermorden. Es ist lediglich ein Telefon nicht an seinem Platz, verdammt noch mal!
Vielleicht, überlegte sie, gab es einen zweiten Anschluß unten im Haus, und Mario hatte den Apparat mit hinuntergenommen. Doch warum? Ihr fiel kein überzeugender Grund ein, weshalb er nicht hier, in diesem Zimmer, telefonieren konnte. Außer, er wollte unbedingt verhindern, daß sie es mitbekam. Wenn er ein Gespräch führte, während sie schon im Bett lag, war die Gefahr, daß sie etwas aufschnappte, im Erdgeschoß zweifellos geringer als im ersten Stock. Aber welche Geheimnisse hatte er vor ihr?
Leise verließ sie das Zimmer. Von unten erklangen noch immer die Musik und Marios Schritte. Um nichts in der Welt hätte sie jetzt hinuntergehen und ihn nach dem Telefon fragen mögen. Aber wenn er morgen früh nicht eine überzeugende Erklärung hatte, würde sie ihre Sachen packen und abreisen und sie würde sich durch keinerlei Bitten von seiner Seite davon abhalten lassen.
Als sie wieder hinauf in ihre Kammer huschen wollte,
kam sie an seiner Zimmertür vorbei und verhielt unwillkürlich ihre
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