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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Schritte. Obwohl sie sich wirklich fürchtete, machte es sie auf einmal fast krank vor Neugier, einen Blick hinter die Tür zu werfen. Unwahrscheinlich, daß Mario jetzt plötzlich auftauchte. Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter.
    Die Nachttischlampe brannte, aber das Bett war völlig unberührt. Hatte Mario überhaupt einen Moment darin verbracht, seitdem sie hier angekommen waren? Auf dem Sessel am Fenster lag eine zerknüllte Wolldecke und ließ vermuten, daß er seine wenigen Stunden Schlaf dort im Sitzen absolviert hatte.
    Ansonsten gab es in dem Raum nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Tina fragte sich, was sie eigentlich erwartet hatte. Hinweise auf irgendeine Abartigkeit? Dann sah sie, daß an der Lampe auf dem Nachttisch eine Photographie lehnte, und trat neugierig näher. Hatte er ihr Photo neben seinem Bett stehen?
    Sie hatte Janet nicht kennengelernt, ebensowenig Phillip. Sie hatte nicht recht verstanden, warum Mario sie bei sich daheim nicht vorstellen mochte, weshalb er die ganze Beziehung seinen Eltern unterschlug. (Dana hatte das in höchstem Maße suspekt gefunden!) Aber sie hatte respektiert, daß er noch niemanden einweihen wollte.
    »Ich will ihre Kommentare nicht hören und ihre Fragen nicht beantworten. Ich möchte dich und unsere Geschichte noch ganz für mich haben. Wenigstens eine Zeitlang soll sie nur mir gehören.«
    Sie hatte das ganz romantisch gefunden und nicht weiter gedrängt.
    Trotzdem erkannte sie sofort, daß es sich bei der Frau auf dem Bild um Marios Mutter Janet handeln mußte. Es war ein Schwarzweißphoto. Janet mußte um die zwanzig Jahre alt gewesen sein und war im Stil der ausgehenden
sechziger Jahre frisiert und gekleidet: Ihre Haare waren auftoupiert und ganz aus dem Gesicht gestrichen; mit ihrem hellen Blond bildeten sie einen reizvollen Kontrast zu den langen, schwarzen Augenwimpern, die künstlich sein mochten. Janet trug Perlenohrringe und eine zweireihige Perlenkette sowie ein ärmelloses Sommerkleid mit viereckigem Ausschnitt und kleinem Vichy-Karomuster. Eine Perlenbrosche in Form einer Blüte gleich unterhalb der Schulter vervollständigte die sehr elegante Erscheinung. Sie lächelte nur andeutungsweise, ein Zugeständnis an den Photographen wahrscheinlich, denn ihre Augen blickten traurig. Ein sensibles, etwas schwermütiges Gesicht. Eine komplizierte Frau.
    Vorsichtig lehnte Tina das Bild wieder gegen die Lampe. Es mußte entstanden sein, bevor Mario geboren wurde. Warum trug er dieses Photo mit sich herum, nicht ein neues? Und warum bekam es diesen privilegierten Platz neben seinem Bett? Tina verspürte einen leisen Anflug von Eifersucht, gemischt mit Argwohn. Sie hing auch an ihrem Vater, aber sie stellte sein Bild nicht neben ihr Bett.
    Sie verließ das Zimmer, schloß die Tür. Sie wußte nicht, ob sie es sich einbildete, aber sie meinte, die Musik, die von unten heraufklang, sei lauter geworden. Auf einmal überfiel sie Panik bei dem Gedanken, er könnte die Lautstärke erhöht haben, um sich unbemerkt die Treppe hinaufzuschleichen. Hastig drehte sie sich um, aber der Flur hinter ihr lag still und dunkel. Dann vernahm sie auch wieder Marios tappende Schritte, durch die Musik hindurch. Er hatte sich nicht angeschlichen. Dennoch rannte sie die Treppe hinauf, so schnell sie konnte, warf die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel um.
    Für den Rest der Nacht lag sie mit weit offenen Augen im Bett, fand keine Ruhe, keinen Schlaf. Gegen Morgen
sagte ihr Instinkt, daß sie abreisen mußte, sobald sie konnte, ob sich die Geschichte um das Telefon nun klärte oder nicht.
    Sie mußte machen, daß sie fortkam.
     
    Phillip hatte beschlossen, nun für den ganzen Rest der Woche sein Büro dichtzumachen, den verbliebenen zwei Mitarbeitern bezahlten Urlaub zu geben und sich zu verkriechen. Er war daheim, als zwei Polizeibeamte in Zivil am Vormittag um zehn Uhr erschienen und sich nach Maximilian erkundigten. Seit dem Anruf von Professor Echinger am Vorabend hatte Phillip damit gerechnet und war daher nicht überrascht.
    Echinger hatte geradezu verzweifelt geklungen: »Ich kann das nicht verstehen. Er hatte keine acht Wochen mehr bis zu seiner Entlassung! Es ist nichts hier im Haus vorgefallen, weswegen er hätte fortlaufen müssen. Er kam mit allen zurecht, schien sich wohl zu fühlen...«
    Peinlich für dich, dachte Phillip, eine hübsche Niederlage, nicht?
    Er empfand eine gewisse Genugtuung, denn er hatte Echinger nie gemocht. Wenn er ehrlich war, mußte er

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