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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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warteten dort bereits, Pendler, die von den umliegenden Gehöften kamen und zur Frühschicht in ihre Betriebe mußten. Niemand beachtete Maximilian. Offenbar sah man ihm nicht an, daß ihm das Herz bis zum Hals schlug und sein ganzer Körper von einem leisen Zittern durchlaufen wurde. Nach so vielen Jahren bewegte er sich zum ersten Mal wieder wirklich in Freiheit. Die Zeit, in der er die Klinik hatte verlassen und Ausflüge
unternehmen dürfen, konnte er nicht als Training ansehen, denn da hatte er sich stets reglementiert und damit beschützt gefühlt. Professor Echinger war als Schatten immer neben ihm gewesen. Die Uhrzeiten, zu denen er gehen durfte und kommen mußte, gaben ihm Halt. Jetzt, heute, stürzte er sich ins Leere, sprang von einem hohen Turm ins Nichts und wußte nicht, wo und wie er aufkommen würde. In einen Bus steigen, eine Fahrkarte bezahlen, losfahren... auf einmal wurde ihm himmelangst, und er schwankte schon, ob er nicht einfach wieder umkehren und zurückgehen sollte, anstatt einem Hirngespinst hinterherzujagen, dabei fast einen Nervenzusammenbruch zu bekommen und sich um seine offizielle Entlassung im August zu bringen.
    Aber da tauchte schon der Bus auf und rollte langsam in die Parkbucht, und plötzlich stand Maximilian neben dem Fahrer und hörte sich sagen: »Einfache Fahrt nach Niebüll, bitte.«
    Seine Stimme klang kratzig und heiser, aber das schien niemandem aufzufallen. Als sich der Bus wieder in Bewegung setzte, sank Maximilian mit weichen Knien auf einen Sitz nahe der Tür. Neben ihm saß eine Frau, vertieft in ihre Zeitung. Sie schaute nicht einmal auf, als sich der junge Mann neben ihr niederließ. Niemand beachtete ihn, niemand starrte ihn an. Niemandem schien ins Auge zu springen, daß er gerade aus einer psychiatrischen Klinik ausgerissen war. Er war ein normaler Mensch unter vielen anderen normalen Menschen.
    Es klappte alles an diesem Tag. Er bekam den Zug nach Hamburg und stieg dort in den nächsten, der in südliche Richtung ging. Er hätte bis Innsbruck fahren können, aber das hätte ihn zu weit von seinem Weg abgebracht, und so stieg er in Frankfurt aus, um sich neu zu orientieren. Bis auf fünfzig Mark hatte er sein Geld verbraucht, und es
schien ihm ratsam, diesen bescheidenen Rest nicht für ein paar Kilometer mehr mit dem Zug zu verpulvern. An einem Stand kaufte er sich eine Currywurst mit Pommes frites, dazu eine Dose Cola. Den ganzen Tag über hatte er keinen Hunger verspürt, aber von einem Moment zum anderen fühlte er sich ganz schwach im Magen, außerdem schmutzig, müde und verunsichert. Auf der einen Seite hatte er durchaus ein paar Siege zu verbuchen: Die geglückte Flucht, die Tatsache, daß er ohne Schwierigkeiten an die siebenhundert Kilometer weit gekommen war, er hatte nicht die Nerven verloren und war auch sonst in keiner Weise aufgefallen. Auf der anderen Seite standen ihm die eigentlichen Schwierigkeiten noch bevor: Er mußte mit dem abgelaufenen Paß die französische Grenze überqueren, er konnte sich nur noch trampend vorwärtsbewegen, und es stand zudem fest, daß Professor Echinger noch heute, spätestens aber am nächsten Morgen sein Verschwinden melden würde. Das bedeutete, daß von diesem Moment an womöglich ein Haftbefehl gegen ihn laufen würde, was die Dinge nicht einfacher machte. Und wenn er schließlich in Duverelle ankam - was erwartete ihn dort? Sein Bruder mit einem Mädchen, oder allein, glücklich und zufrieden, aber entsetzt, ihn plötzlich zu sehen. Wie sollte er ihm, ohne ihn zu verletzen, erklären, was ihn zu dieser absurden Reise, mit der er seine Entlassung vermasselte, bewogen hatte? Eine innere Stimme, die von Gefahr sprach... Wer sollte das verstehen? Am Ende nicht einmal mehr er selbst.
    Während er seine Cola trank, überlegte er, von welchem Zeitpunkt an sich sein Tablettenentzug bemerkbar machen würde - und auf welche Weise. Seit der Medikamentenausgabe am Vorabend hatte er nichts mehr eingenommen, nachdem sein Körper seit Jahren daran gewöhnt war, mit den Pillen zu leben, sein Gemüt, in allen
Stimmungen durch sie reguliert zu werden. Schon jetzt bemerkte er, daß das leise Zucken in seinen Händen in den letzten Stunden stärker geworden war. Er konnte nur hoffen, daß er sein Ziel erreichte, ehe er sich in ein Bündel zitterndes Espenlaub verwandelt hatte.
    Sein Hunger war notdürftig gestillt. Er beschloß, sich ein oder zwei Stunden auf einer der Bänke im Bahnhof auszuruhen und sich dann zu einer der

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