Die Suende der Engel
irgendeine Grimasse schnitt. Sie stand, beide Hände in die Taschen ihres dunkelroten Anoraks gestemmt, mitten auf einer Wiese in einer noch ganz winterlichen Landschaft. Maulwurfshügel verzierten das kurze, bräunliche Gras, die kahlen Äste eines Baumes ragten in den blauen Himmel mit den zarten Schleierwolken. Fröhlichkeit vermittelten einzig der wehende hellblaue Schal, den Tina um den Hals trug, und
das Lachen auf ihrem Gesicht. Sie strahlte geradezu, voller Glück, Entspanntheit und Lebensfreude. Sie war sehr verliebt gewesen an dem Tag, erinnerte sie sich. Und auf der Rückfahrt in die Stadt, auch das kam ihr nun wieder in den Sinn, hatte sie zum erstenmal davon gesprochen, wie schön es wäre, gemeinsam zu verreisen. Irgendwohin, wo es warm war und lustig. Sie hatte geplaudert und geplant und nicht bemerkt, wie wenig Mario auf alles, was sie sagte, einging. Jetzt, im nachhinein erst, realisierte sie, wie stumm und erschrocken er gewesen war.
Auf einmal wußte sie, daß ihre Liebe zu Mario aufhören würde, daß sie bereits dabei war, sich zu verabschieden. Sie hatte eine stürmische, befreiende Kraft in Tinas Leben gebracht, hatte sie zum ersten Mal stark genug sein lassen, sich gegen ihren Vater aufzulehnen und sich über seine Wünsche hinwegzusetzen. Vielleicht hatte sie keinem anderen Zweck dienen sollen als diesem.
Sie hatte bereits gemerkt, daß sich der Telefonapparat auch im Wohnzimmer nicht befand, aber das versetzte sie nicht mehr in die Panik und Aufgelöstheit wie während der Nacht. Bei Tag sah alles anders aus. Das Zimmer wirkte sehr friedlich mit seinen roh verputzten, weißen Wänden, dem Terrakottaboden, dem handgewebten Schafwollteppich, den leuchtendbunten Aquarellen über dem Sofa. Seine Mutter hatte die Bilder gemalt, hatte Mario erzählt. Motive aus der Gegend, verlassene Bauerndörfer in den Bergen, grasende Ziegen, eine einsame, steinerne Hütte irgendwo im Grand Canyon du Verdon, das bunte Treiben auf einem ländlichen Marktplatz.
Draußen lag blühend und duftend, von letztem Tau benetzt, der Garten. Es würde wieder ein heißer Tag werden, keine Wolke stand am Himmel, der Wind in den Zypressen war verstummt. Kaum vorstellbar, daß der Mistral, jener in Sibirien geborene Wind, hier Bäume
entwurzeln, sintflutartige Regenfälle mit sich bringen konnte. Die düsteren Gedanken der Dunkelheit verloren ihre Schrecken unter dem hellen Licht. Tina vermochte nicht länger in Mario einen gefährlichen Psychopathen zu sehen. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm, das war klar, und es war schwerwiegend genug, ihn nachts nicht schlafen, sondern ruhelos umherwandern zu lassen. Aber er mußte deshalb nicht gleich gefährlich sein. Er schlug sich mit quälenden Gedanken herum, Gedanken der Enttäuschung vermutlich. Instinktiv spürte Tina, daß sie es war, die ihn enttäuschte. Sie war sich keiner Schuld bewußt, ihm in irgendeiner Weise etwas über sich vorgemacht zu haben, aber möglicherweise hatte er etwas in ihr gesehen, das sich nun als trügerisch erwies. (»Du bist das Bild, das ich in mir barg«?) Das Schlimme war, daß er offenbar nicht bereit oder in der Lage war, darüber zu sprechen.
Sie ging in die Küche, setzte Wasser auf und löffelte Kaffeepulver in den Filter. Sie fühlte sich jetzt sehr ruhig, sehr vernünftig. Sie würde ihm erklären, daß sie nicht zusammenpaßten, daß es besser wäre, rechtzeitig auseinanderzugehen. Sie konnten Freunde bleiben und sich weiterhin ab und zu sehen.
Als Mario endlich unten erschien, war es beinahe zwölf Uhr. Tina, die sich im Garten zu schaffen gemacht, Unkraut gezupft und vertrocknete Blüten abgeschnitten hatte, war vor der nun beinahe unerträglichen Hitze in den Schatten der hinteren Veranda geflüchtet, wo sie in einem Liegestuhl saß und in einer französischen Modezeitschrift blätterte. Sie erschrak, als Mario auf einmal neben ihr stand.
»Ich habe dich gar nicht kommen hören«, rief sie.
»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte Mario. Er sah sehr blaß aus, und unter seinen Augen lagen
dunkle Schatten. Müde strich er sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich habe verschlafen.«
»Kein Wunder. Du warst die halbe Nacht auf den Beinen.«
Wenn es ihn erstaunte, daß sie das wußte, so ließ er sich nichts anmerken. Er nickte nur. »Ich war zu nervös. Ich konnte mich nicht hinlegen.« Er setzte sich auf einen der Gartenstühle. Auf seinem weißen T-Shirt stand in verblichenen schwarzen Buchstaben »Born to die«.
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