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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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stundenlang gegrübelt, ob er es riskieren konnte, in diesem Punkt halbwahre Angaben zu machen. Wenn er die Adresse des Ferienhauses verriet, würde die Polizei dort auftauchen. In diesem Fall würde das Mädchen, Christina, von Maximilians Existenz erfahren, womöglich auch von jenem Vorfall, dessentwegen er in die Klinik gekommen war. Sie würde ihrem unangenehmen Vater davon erzählen, und Gott mochte wissen, welche Kreise das dann noch zog. Alle Anstrengungen, die Phillip unternommen hatte, um niemanden von Maximilian erfahren zu lassen, würden dann hinfällig. Zwar bestand natürlich die Gefahr, daß Maximilian tatsächlich in Duverelle aufkreuzen und Tina den Schreck ihres Lebens einjagen würde. Dann flog ohnehin alles auf, aber er würde sich eine kleine Chance offenhalten, daß Tina nichts erfuhr, wenn er der Polizei nichts sagte. Natürlich konnte es sein, daß Echinger über das Ferienhaus Bescheid wußte und die Beamten bereits unterrichtet hatte - obwohl Phillip das nicht für wahrscheinlich hielt. Echinger unterlag der ärztlichen Schweigepflicht; er war mit seinen Angaben ohnehin schon fast zu weit gegangen. Vorsichtig sagte er nun: »Das halte ich für sehr schwierig...«
    »Wohin ist Ihr zweiter Sohn verreist?«
    Sie wußten nichts. Sie wußten augenscheinlich nicht einmal etwas von Tina. Oder stellten sie ihm eine raffinierte Falle? Phillip beschloß, das Wagnis einzugehen.

    »Er wollte nach Frankreich. Herumfahren und immer dort bleiben, wo es ihm gefällt. Deshalb meinte ich, es wäre schwierig, wenn...«
    »Ja, schon klar.« Kein Argwohn bei den Beamten. Zum erstenmal ergriff der jüngere der beiden das Wort.
    »Wenn sich Maximilian bei Ihnen meldet, dann raten Sie ihm, sich umgehend zu stellen. Es kann ihm nur nützen.«
    »Selbstverständlich«, versprach Phillip. Er begleitete seine Besucher hinaus, hörte kurz darauf erleichtert das Motorengeräusch ihres anfahrenden Wagens. Er hatte ein nervöses Kribbeln im Magen und wurde plötzlich von der Ahnung geplagt, das alles könne nur einen schrecklichen Ausgang nehmen.
    Wieder kochte die Wut auf Janet in ihm hoch, so heftig wie am Abend vorher, und auf einmal dachte er: Es ist verdammt auch ihre Sache! Sie macht sich aus dem Staub, und ich bleibe allein in dem Schlammassel zurück!
    Wenn er sie anrief und ihr berichtete, daß Maximilian aus der Klinik ausgebrochen war, würde sie das schön durcheinanderbringen. Nichts mehr würde sie in England halten, auch nicht Andrew Davies’ Verrenkungen im Bett.
    Getragen von der Freude darüber, dem verhaßten Rivalen einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen, eilte Phillip zum Telefon. Im Augenblick fühlte er sich stark genug, Davies’ Stimme zu ertragen.
    Er wählte die Nummer und wartete. Nachdem er es zweimal bis zum Ende hatte durchklingeln lassen, ohne daß sich jemand meldete, begriff er, daß die beiden ausgeflogen waren. Nicht ungewöhnlich an einem normalen Vormittag.
    Und trotzdem versetzte es Phillip plötzlich in helle Aufregung und beklemmende Unruhe.

    Irgendwann in den frühen Morgenstunden mußte Mario in sein Zimmer gegangen sein. Jedenfalls war der Wohnraum im Erdgeschoß leer gewesen, als Tina um neun Uhr hinuntergekommen war. Am CD-Spieler leuchtete noch das rote Stand-by-Licht. Tina hatte die CD herausgenommen. Es war die »Walküre« von Wagner.
    Auf dem Sofatisch stand eine leere Mineralwasserflasche, daneben lag, mit der Vorderseite nach unten, ein Polaroidphoto. Tina nahm es auf und drehte es um. Überrascht stellte sie fest, daß es sich um ein Bild handelte, das Mario im März während eines Spazierganges am Elbdeich von ihr aufgenommen hatte. Sie erinnerte sich genau: Es war einer der wenigen frühlingshaft warmen Tage eines insgesamt zu kalten, von Regen und Sturm begleiteten Monats gewesen, und sie hatte Mario überreden können, mit ihr aufs Land zu fahren. Das war gewesen, kurz bevor er sich ein eigenes Auto gekauft hatte, und er hatte den Wagen seines Vaters geliehen - er hatte ihm erzählt, mit Kommilitonen ins Blaue fahren zu wollen, und bei allem Verständnis hatte es Tina doch einen Stich gegeben, wieder einmal unterschlagen zu werden -, und auf dem Rücksitz des Wagens hatten sie die Polaroidkamera entdeckt. Sie hatten den ganzen Film verschossen und höchst alberne Bilder voneinander gemacht; sie streckten einander darauf die Zunge heraus oder verdrehten die Augen. Dieses hier, das auf dem Tisch gelegen hatte, war das einzige, auf dem Tina nicht

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