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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Seine Jeans hatten unterhalb des linken Knies einen Riß, der ein Stück auseinanderklaffte und tiefgebräunte Haut hervorblitzen ließ. Mario sah sehr lässig aus, sehr jung - und zugleich irgendwie zerbrechlich, weil er so müde schien. Und Tina erlebte es zum ersten Mal am eigenen Leib, wie rasant sich Stimmungen und Gefühle gegenüber einer Person ändern können. Ihre Vernunft war beim Teufel. Mario war wieder ihr Mario, ihr schöner, dunkelhaariger Junge mit den sanften, melancholischen Augen. Es würde ihr das Herz brechen, ihn zu verlieren. Sie legte ihre Zeitung zur Seite, streckte die Hand aus und berührte sachte seinen Arm.
    »Mario«, sagte sie leise, »was ist los?«
    Er sah sie an. In seinen Augen schien eine verzweifelte Bitte um Verständnis zu liegen.
    »Tina, ich...« Er wirkte so unglücklich und schien drauf und dran, alles herauszusprudeln, was ihn bedrückte, alles... und bremste sich doch in der letzten Sekunde. In seinen Augen erlosch etwas. Und Tina begriff, was immer er jetzt sagen würde, es würde nur noch ein Teil der Wahrheit sein.
    »Ich habe jahrelang Tabletten genommen,« sagte er. Sein Blick war nun von Tina abgewandt und auf einen Oleanderbusch im Garten gerichtet. Auf eigenartige Weise klang es künstlich, was er sagte. Aber Tina machte
sich klar, daß er es sicher nicht gewohnt war, Geständnisse abzulegen.
    »Tabletten?« fragte sie.
    Die Blässe seines Gesichtes vertiefte sich. »Beruhigungsmittel, aufputschende Sachen... je nachdem, meist im Wechsel. Es begann während meines Abiturs. Ich wurde fast verrückt vor Prüfungsangst. Also lernte ich wie ein Besessener. Um mich wachzuhalten, nahm ich jede Menge Muntermacher. Um ab und zu schlafen zu können, Schlaftabletten. In den Prüfungen Beruhigungsmittel. Und... na ja...« Er machte eine hilflose Handbewegung.
    Tina fragte vorsichtig: »Und nach dem Abitur?«
    »Ich geriet einfach immer wieder in Situationen, in denen ich meinte, etwas zu brauchen. Während meines Zivildienstes, und dann vor allem, als ich mit dem Studium anfing. Klausuren, Referate... das Schlimme ist, nach und nach macht dich das Zeug immer schwächer. Zum Schluß brauchst du es bei Gelegenheiten, von denen du nie gedacht hättest, daß sie dir einmal Probleme bereiten könnten...« Er schluckte, schaute hinab auf seine Hände, die ineinander verknotet in seinem Schoß lagen. »Manchmal mußte ich Beruhigungsmittel nehmen, nur um ein Kaufhaus betreten zu können«, fuhr er fort, »verstehst du, ich bekam Angstzustände zwischen all den vielen Menschen...«
    Tina stand von ihrem Liegestuhl auf, kauerte sich neben Mario, nahm seine Hände in ihre. Sie war sehr aufgeregt.
    »Mario, warum hast du mir nie etwas davon erzählt? Ich meine, wir lieben uns doch. Da bespricht man doch seine Probleme.«
    »Ich wollte dich nicht belasten. Du bist noch so jung.« Er sah sie zärtlich an.

    Tina runzelte die Stirn. »Ich bin nicht so jung, als daß man mit mir nicht reden könnte!«
    »Natürlich. Es war dumm von mir.« Er holte tief Luft. »Für diese Reise hatte ich beschlossen, endgültig ohne das Teufelszeug zu leben. Ich habe von einem Tag zum anderen damit aufgehört. Aber es geht mir schlecht, weißt du. Ich kann nicht schlafen, ich bin schrecklich unruhig... und manchmal habe ich Angstzustände...«
    Sie hätte betroffen sein müssen, vielleicht sogar erschrocken. Aber zu Tinas heimlicher Beschämung war genau das Gegenteil der Fall. Sie empfand tiefe Erleichterung, fühlte sich befreit von der Last verwirrender, angstvoller Gedanken. Auf einmal fügten sich alle Teile zu einem klaren Bild. Marios Unberechenbarkeit, sein nächtliches Umherwandern, seine eigenartige Reaktion in jener Nacht, als sie zu ihm ins Wohnzimmer gekommen war. Auch die getrennten Schlafräume verstand sie nun: Er hatte vor ihr geheimzuhalten versucht, was mit ihm los war. Und seine rabiate Nonstopreise von Hamburg bis hierher wurde ebenfalls erklärlich. Zu Hause fühlte er sich einigermaßen sicher, hier, in diesem ihm seit frühester Kindheit vertrauten Ferienhaus, ebenfalls. Dazwischen hatten ihn seine Phobien verfolgt. Tina konnte sich vorstellen, daß es einem Menschen wie ihm äußerst schwerfiel, in einer fremden Stadt herumzulaufen oder in einem Hotel zu übernachten.
    Sie sah ihn an. »Ich bin froh, daß du es mir gesagt hast. Wir werden es gemeinsam schaffen, Mario.«
    Sie fühlte sich beschwingt, fröhlich, stark. Er brauchte ihre Hilfe, und sie spürte eine leidenschaftliche

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