Die Suende der Engel
konnte hören, wie sie den Türöffner betätigte. Dann kam sie zu ihm zurück. »Ich bin gespannt, wer da kommt. Hier funktioniert der Sprechapparat nicht, wissen Sie. Es ist immer recht interessant, wer dann schließlich die Treppe heraufkommt.«
Der Erfolg bei den Recherchen - so erschreckend sich das Ergebnis für Michael auch darstellte - hatte ihr großen Auftrieb gegeben. Sie buchte ihn als Bestätigung ihrer journalistischen Fähigkeiten, der ersten seit Jahren. Sie war noch immer in der schrecklichen gelben Aufmachung wie in München, und ihre verfärbten Haare hoben sich in
einem besonders schmerzhaften Rot dagegen ab. Sie wirkte jünger im Gesicht als bei der Abreise am Tag zuvor. Sie strahlte plötzlich Energie aus, schien optimistischer und selbstsicherer.
Später sollte er sich oft erinnern, daß ihn der Anblick, wie sie ihm da in dem verschlampten Wohnzimmer gegenüberstand und lächelte, mit Gereiztheit erfüllt hatte. Es hatte ihn geärgert, daß sie als spannendes Abenteuer zu empfinden schien, was ihn selbst in qualvolle Unruhe stürzte. Aber er würde nie vergessen, wie sie gewesen war in diesem Moment, wie lebendig und zuversichtlich, denn es war das letzte Mal, daß er sie so sah.
Fünf Minuten später hatten zwei Polizeibeamten die Treppen zur Wohnung herauf erklommen, beide recht abgekämpft und frustriert, denn wie sich herausstellte, hatten sie bereits mehrmals versucht, Karen anzutreffen. So vorsichtig wie möglich teilten sie ihr mit, daß in Frankreich, nahe der Grenze bei Mühlhausen, die Leiche eines jungen Mädchens gefunden worden sei. Ihren Papieren nach handele es sich um eine Dana Graph, wohnhaft unter dieser Adresse. Man bedaure tief, eine so schreckliche Nachricht überbringen zu müssen.
Maximilian fand den Telefonapparat schließlich auf dem Wohnzimmerschrank, nachdem er eine Stunde lang das ganze Haus abgesucht hatte. Er wußte selbst nicht, warum er das tat, was er sich davon versprach, dieses verschwundene Gerät zu finden. Es würde ihn kaum auf die Spur bringen. Vielleicht hegte er irgendeine vage Hoffnung, daß sich das Telefon als kaputt erweisen würde, was er dann wiederum als triftigen Grund dafür ansehen könnte, daß es verräumt worden war.
Der Apparat funktionierte einwandfrei, als er ihn im Arbeitszimmer wieder anschloß. Das Freizeichen ertönte
klar und deutlich. Maximilian wählte irgendeine Nummer, und kurz darauf meldete sich eine Frauenstimme. Er legte auf.
Gut, das Telefon war in Ordnung. Mario hatte es also absichtlich versteckt, damit Christina keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen konnte und damit sie - vor allem - von draußen nicht erreichbar war. Er mußte nur die Augen schließen und sich konzentrieren, und er konnte fühlen, wie Mario fühlte, konnte denken wie er, empfinden wie er. Christina hatte ihn enttäuscht. An irgendeinem Punkt der gemeinsamen Reise hatte die Enttäuschung begonnen - und war dann immer stärker und schmerzhafter geworden. Es war der Moment gekommen, von dem an das Mädchen nur noch Fehler machen konnte, ganz gleich, wie es sich verhielt. Er lauerte darauf, daß Christina sich falsch benahm, suchte wie besessen nach Beweisen für ihre Unzulänglichkeit. In seinen Augen trug die Welt die Schuld an der Misere. Die bösartige, verdorbene, lasterhafte Welt. Christina mußte vor der Welt versteckt werden.
Maximilian überlegte. Was tut man als erstes? Man beseitigt das Telefon. Aber das allein nützt nichts. Christina ist jung, wach, kontaktfreudig, lebhaft. Sie drängt nach außen. Sie läßt sich nicht einsperren. Sie nimmt andere Menschen wahr, andere Männer. Sie lacht, sie schaut, sie flirtet sogar. Jeder einzelne Blick, den sie einem anderen Mann zuwirft, jedes kokette Aufblitzen ihrer Augen, jedes bewußte Zurückwerfen ihrer Haare - lang und blond, da wäre er jede Wette eingegangen - schmerzt Mario wie ein Messerstich. Die Qual wird unerträglich. Er sucht zu verbergen, was in ihm vorgeht, aber gerade das läßt seine innere Spannung ins Unermeßliche wachsen. Er kann es nicht mehr aushalten, er kann nur noch daran denken, das, was ihn so quält, in irgendeiner Weise auszuschalten: die Welt.
Maximilian begann erneut im Haus herumzulaufen; die Augen angestrengt zusammengekniffen, versuchte er, jene geheimnisvolle innere Verbindung, die zwischen den beiden Brüdern immer bestanden hatte, wiederaufzunehmen. Wohin bist du mit ihr gegangen? Wohin?
Er blieb im Wohnzimmer stehen, direkt vor der Wand, an der Janets
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