Die Sünde des Abbé Mouret
er
seinen Neffen von der Seite, mit der
Eindringlichkeit eines Gelehrten, der sich Bemerkenswertes bucht.
Gutmütig stellte er ihm kleine Fragen über sein Leben, seine
Gewohnheiten, das ruhige Glück seines Aufenthaltes im Artaud. Und
bei jeder befriedigenden Antwort murmelte er beruhigt vor sich
hin:
»Na also, desto besser, dann ist ja alles in Ordnung.« Mit
besonderem Nachdruck beschäftigte er sich mit dem
Gesundheitszustand des jungen Pfarrers. Verwundert versicherte ihm
dieser, er fühle sich sehr wohl, leide weder an Schwindel, noch
Übelkeiten und Kopfschmerz.
»Ausgezeichnet, ausgezeichnet,« sagte Onkel Pascal ein über das
andere Mal. »Im Frühling, weißt du, regt sich das Blut. Aber du
bist widerstandsfähig … Beiläufig, ich sah deinen Bruder
Ottokar vergangenen Monat in Marseille. Er übersiedelt nach Paris;
er hat sich eine schöne Stellung dort im Großhandel gemacht. Ah!
der Tausendsassa, ein nettes Leben führt er!«
»Was für ein Leben?« fragte der Priester naiv. Um der Antwort
auszuweichen, schnalzte der Doktor mit der Zunge. Dann fuhr er
fort:
»Auf jeden Fall geht es allen gut, deiner Tante Felizitas,
deinem Onkel Rougon und den anderen. Das hindert aber nicht, daß
wir deiner Fürbitten sehr bedürftig sind. Du bist der Heilige in
der Familie, mein Bester! Ich zähle auf dich; du mußt die ganze
Familie retten!«
Sein Lachen klang so freundschaftlich, daß selbst Sergius
aufzutauen begann.
»Wir haben da Exemplare in der Sammlung,« fuhr er fort, »die man
mit Leichtigkeit nicht wird ins Paradies schaffen können.
Merkwürdige Beichten würdest du anhören müssen, kämen sie nacheinander zu dir, um ihr Herz
auszuschütten … Mir brauchen sie nicht zu beichten; ich
verfolge ihr Leben von weitem, ihre Akten liegen bei mir, bei
meinen Pflanzenbüchern und ärztlichen Aufzeichnungen. Eines Tages
werde ich ein Bild von größtem Interesse aufzeigen können …
Wir werden sehen, wir werden sehen!« Er vergaß, zu wem er sprach,
von jugendlicher Begeisterung entzündet für die Wissenschaft. Sein
Blick streifte die Sutane des Neffen; er schnitt sich das Wort ab.
»Du bist Pfarrer,« murmelte er; »recht hast du, glücklich ist man
als Geistlicher. Du bist es mit Leib und Seele, nicht wahr? So daß
du im Guten verankert bist… geh mir, nirgends anders wärest du
zufrieden gewesen. Deine Eltern, die wie du alles verließen,
fortgingen, sündigten nach Herzenslust; sie leben sich immer noch
aus … Das ist alles logisch, eines folgt aus dem andern, mein
Junge. Ein Priester vervollständigt das Familienbild, außerdem
mußte das so kommen. Unser Geschlecht mußte sich dahin
entwickeln … Um so besser für dich; du hast das beste Teil
erwischt.« Dann, sich selbst widerlegend, mit sonderbarem
Lächeln:
»Nicht doch, deine Schwester Desiderata hat es noch besser als
du.« Er pfiff, ließ die Peitsche durch die Luft sausen und brachte
die Unterhaltung auf andere Dinge. Nachdem das Gefährt einen
ziemlich steilen Abhang hinaufgefahren war, rollte es zwischen
traurigen Felsriffen, kam dann auf eine Hochebene, in einen Hohlweg
und fuhr an einer endlosen Mauer entlang. Das Artaud war versunken;
hier war völlige Wildnis.
»Nicht wahr, wir sind bald da?« fragte der Priester.
»Hier ist das Paradeis,« antwortete der Arzt, auf
die Mauer deutend. »Bist du denn noch nie
bis hierher gekommen? Es ist kaum eine Wegstunde vom Artaud …
Ein prachtvoller Besitz muß es gewesen sein, dies Paradeis. Die
Parkmauer ist auf dieser Seite wohl zwei Kilometer lang. Doch seit
mehr als hundert Jahren wächst hier alles aufs Geratewohl.«
»Was für schöne Bäume,« bemerkte der Abbé, der in die Höhe sah
und sich wunderte über die unbändige Menge quellenden Grüns.
»Gewiß, dieser Winkel ist sehr fruchtbar. Der Park ist ein
wahrer Wald, mitten in kahlen Felsen … Hier entspringt
übrigens der Mascle. Es soll drei oder vier Quellen geben, glaub'
ich mich zu entsinnen.«
Und in abgerissenen Sätzen, unterbrochen von Randbemerkungen,
die nicht dazu gehörten, erzählte er die Geschichte des Paradeis,
eine Art Legende, die in der Gegend umging. Ein großer Herr hatte
hier zur Zeit Ludwigs XV. einen prachtvollen Palast entstehen
lassen mit weitläufigen, riesigen Gärten, Teichen, Wasserkünsten
und Statuen, ein Versailles im Kleinen, verschollen im Gestein
unter heißer südlicher Sonne. Aber jenes Schloß bewohnte er nur
einen Sommer lang in Gesellschaft einer anbetungswürdigen Schönen,
die
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