Die Sünde in mir
so weit! Die Schuluntersuchung findet heute statt! Ich gehe nervös an Mamas Hand zu dem großen grauen Gebäude, in dem sonst immer die Impfungen stattfinden. Mama hat mir aber versprochen, dass es heute keine Spritze geben wird. Davor habe ich nämlich Angst.
Wir treffen sogar ein paar Kinder mit ihren Müttern, die ich vom Kindergarten oder vom Fußball kenne. Mein Vater ist Mitglied im Fußballverein, und wenn Feiern sind, dürfen die Männer ihre Familien mitbringen. Besonders schlimm ist immer die Nikolausfeier, da habe ich richtig Angst vor, denn da kommt der Knecht Ruprecht mit und der ist böse. Aber dann ist es auch wieder lustig, wenn die Erwachsenen dran kommen und was mit der Rute kriegen.
Wir müssen alle in einem großen Raum warten und werden dann aufgerufen. Jedes Kind bleibt bei seiner Mutter sitzen, bis es an der Reihe ist. Wir grinsen uns nur heimlich zu, zwinkern oder verdrehen die Augen. Das ist lustig. Gabriele schneidet immer die lustigsten Gesichter.
„Nicole Lindemann!“
Mein Herz schlägt gleich viel schneller, als mein Name genannt wird. Mama steht auf und nimmt mich an die Hand. Sie geht mit festen Schritten auf die Tür zu, an der eine junge Frau in einem weißen Kittel wartet.
„Gehen Sie bitte hier hinein. Das Kind soll sich bis auf die Unterhose ausziehen. Die Ärztin ruft Sie dann gleich auf.“
In der Kabine ist es sehr eng, fast wie beim Schwimmen. Mama legt ihre Handtasche auf einen Hocker und hilft mir, mich auszuziehen. Während ich mit der einen Fußspitze auf die Hacke des anderen Schuhs trete, um diesen vom Fuß zu bekommen, zieht sie mir schon die Bluse über den Kopf. Die Bluse habe ich extra für heute angezogen. Eigentlich ist die nur für sonntags. Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass die Ärztin sie nun nicht sehen wird. Wir sind gerade fertig und Mama streicht mir die Haare glatt, als eine Tür auf der anderen Seite geöffnet wird und wir hereingerufen werden.
Mama gibt der Ärztin die Hand und setzt sich dann auf einen Stuhl. Ich soll stehen bleiben. Mit wild klopfendem Herzen warte ich darauf, was jetzt passieren wird. Mir ist kalt, obwohl es draußen warm ist. Ich versuche immer nur daran zu denken, mir das Auge beim Sehtest nicht so fest zuzudrücken, wie es meine Schwester damals getan hat.
„Streck mal die Arme seitlich aus“, verlangt die Ärztin. Sie sieht streng aus und lächelt gar nicht. Ihre Haare sind grau und in einem Knoten auf dem Kopf festgesteckt.
„Und nun nach vorne. Stell dich auf ein Bein und mach die Augen zu. Jetzt das andere Bein.“
Die ganze Zeit gibt sie Befehle und ich versuche so gut wie möglich alles zu machen, was sie will. Als das Turnen vorbei ist, suche ich Mamas Blick, um zu sehen, ob ich alles richtig gemacht habe. Mama nickt mir zu und ich fühle mich ein bisschen besser. Mittlerweile ist mir sehr kalt und ich würde mich gerne wieder anziehen. Die Ärztin hört meine Brust und meinen Rücken ab, so wie der Kinderarzt das immer macht. Dann klopft sie auf mir herum, sieht in meine Ohren und in meinen Hals. Ich muss mich an die Wand stellen und werde gemessen und dann auf einer komischen Waage gewogen. Die Ärztin schiebt silberne Riegel hin und her und die Waage pendelte nach rechts und nach links und ich soll ganz stillstehen bleiben. Dann soll Mama mit mir wieder in die Kabine gehen und ich darf mich anziehen.
„Sind wir fertig, Mama? War ich gut?“
„Nein, wir müssen noch warten.“
Ich frage mich, was jetzt noch kommen wird, aber dann fällt mir ein, dass ich den Sehtest noch gar nicht gemacht habe, von dem Sabine gesprochen hat. Vielleicht findet der ja in einem anderen Raum statt. Mama führt mich wieder in das Wartezimmer. Einige Kinder sind verschwunden, aber dafür sitzen jetzt andere dort. Ich entdecke Birgit und winke ihr kurz zu.
Kapitel 34
Doktor Fabian befand sich zur täglichen Mittagsbesprechung in Professor Wielands Büro. Während der Chef noch ein Telefonat führte, wippte der junge Arzt unruhig vor und zurück. Er konnte sich nicht dazu durchringen, endlich nach dem Verbrechen zu fragen, dass Nicole begangen hatte und er fragte sich, warum das so war.
Würde er ihr nicht besser helfen könnten, wenn er erfuhr, was vorgefallen war? Sollte er den Grund für ihre Einweisung nicht kennen?
Professor Wieland hatte ihm beim letzten Gespräch Fragen gestellt, die ihn immer noch beschäftigten. Wie sollte er rechtzeitig
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