Die Sünde in mir
mir heraus. Karin hat mich nur groß angeguckt und dann hat sich mich in den Arm genommen, weil ich geweint habe. Sie hat mir versprochen, nichts weiter zu erzählen. Wolf darf nicht merken, dass sie etwas weiß! Ich will nicht, dass er Karin was tut.
Deshalb ist mein Mund jetzt wie zugeklebt.
Einmal muss ich nachts auf dem Flur stehen, weil meine Puppe aus dem Bett gefallen ist und „Mama“ gesagt hat. Die Aufsicht hat sie weggenommen und gesagt, dass ich sie bei der Abfahrt wieder bekomme. Das ist so gemein! Dann muss ich draußen auf dem Gang stehen und darf mich nicht mal an die Wand lehnen. Ich habe solche Angst, dass Wolf auftaucht! Aber er kommt nicht. Stattdessen will die Frau, dass ich ihr helfe, die neuen Anziehsachen zu verteilen. Einmal in der Woche bekommt jedes Kind neue Sachen.
Die Frau hat den riesigen Schrank im Flur aufgeschlossen und ich kann zum ersten Mal rein sehen. Hunderte von Fächern gibt es da und alle sind voll mit Anziehsachen. Schilder kann ich auch entdecken. Die Frau muss eine Leiter nehmen, um oben an die Fächer zu kommen. Sie holt einen Packen Kleidung heraus, steigt herunter und drückt mir alles in die Arme. Jeans, T-Shirt, Socken, Unterhemd, Unterhose.
„Bring das zu Raum fünf. Das letzte Bett in der Reihe am Fenster. Und nimm die alten Sachen mit!“
Ich laufe barfuß über den Flur. Meine Pantoffel stehen neben meinem Bett. Ich habe sie in der Eile nicht gefunden. Ob ich sie kurz holen kann? Aber ich traue mich nicht.
In Raum fünf ist es dunkel. Ich kann kaum was erkennen. Um mich herum schlafen alle und ich höre ihre Atemzüge und ihr Schnarchen. Es ist ein Jungenzimmer und es riecht hier nach Furz und alten Socken. Vorsichtig taste ich mich zum letzten Bett. Damit ich Platz für die neuen Sachen habe, schiebe ich die alten auf den Boden und sammle sie danach wieder ein.
„Herrje! Wie lahm bist du denn? Das dauert ja die ganze Nacht bei dem Tempo!“, werde ich angemeckert, als ich zurückkomme. Meine Füße sind so kalt, dass ich sie kaum noch spüre. Die Frau gibt mir den nächsten Packen Wäsche, nimmt sich selbst auch einen und geht mit. Wir verteilen ewig lange die Anziehsachen und mir fallen schon beim Laufen die Augen zu. Als ich endlich zurück in mein Bett darf, ist es bereits hell.
Am nächsten Tag bin ich krank. Mein Kopf glüht und mir ist schwindelig. Ich stehe trotzdem auf, denn ich will nicht auf die Krankenstation. Nicht zu Wolf! Doch genau da bringen sie mich wieder hin, als ich am Nachmittag einfach so von der Bank falle.
Kapitel 73
Schwester Gisela fing Frank ab, als dieser die Station betrat.
„Wie geht es Nicole?“
„Ich weiß nicht“, gab er ehrlich zu.
„Und dir?“
Frank zuckte die Schultern. Er wusste nicht, was er von der Elektrokonvulsionstherapie halten sollte. Einerseits wurde sie in den Himmel gelobt und fast schon als Wundermittel angepriesen, andererseits gab es Gegner, die die Methode als barbarisch, brutal und menschenunwürdig bezeichneten. Sogar von Folter war die Rede.
„Komm, trink einen Kaffee mit mir. Der Professor hat sowieso noch zu tun“, bot Gisela an. Frank nickte.
„Hast du schon mal etwas von einer EKT mitbekommen?“, wollte er wissen.
„Ich habe es selbst noch nicht gesehen“, erzählte Gisela, während sie Kaffeesahne eingoss, „aber ich habe Patienten erlebt, die nach dieser Therapie wie ausgewechselt waren.“
„Wirklich?“ Frank hielt seine Tasse mit beiden Händen, als wolle er sich daran die Finger wärmen.
„Ja. Stell dir vor, wir hatten hier einen Patienten mit einer schweren Depression. Er wurde monatelang mit Medikamenten behandelt, aber nichts half. Da er suizidgefährdet war, habe ich ihn lange auf dem Monitor überwachen müssen. Er war erst Mitte dreißig, hatte das Leben aber schon gründlich satt. Dann hat der Professor sich endlich für eine EKT entschieden. Er war lange Zeit selbst skeptisch, was diese Therapieform angeht, aber auf einem Kongress hat ein Kollege ihn wohl von den positiven Aspekten überzeugen können. Jedenfalls konnte der Patient schon nach wenigen Sitzungen nach Hause entlassen werden. Er bekam noch Antidepressiva, aber dieses Mal wirkten sie und er war wie neugeboren. Wir haben uns alle sehr gefreut, als es ihm besser ging. Manchmal kommt er uns noch besuchen.“
„Das ist wirklich erstaunlich“, bestätigte Frank. Er hatte sich mit dieser Methode noch nicht richtig befasst, weil er gar nicht
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