Die Sünde in mir
von der Wange. Alles okay.“
„Gib ihr Sauerstoff über die Nasensonde und leg zur Vorsicht einen Güddeltubus ein. Nicht dass das noch mal passiert.“
„Okay. Schreibst du den Bericht?“
„Ja, mach ich. Ich sag Dr. Sanders Bescheid. Vielleicht will er das EKT verschieben. Bleib du hier und überwach sie.“
Kapitel 75
Früher
Irgendwann machen sie ein Gruppenfoto von uns. Das müssen wir dann von unserem Taschengeld kaufen. Ich weiß gar nicht, dass ich Taschengeld habe. In einem kleinen Laden dürfen wir uns für das restliche Geld Sachen aussuche. Eine der Frauen macht das für mich, ohne mich zu fragen. Sie gibt mir ein getrocknetes Seepferdchen in die Hand. Ich schaue es an. Die toten, trockenen Augen schauen zurück. Warum es wohl gestorben ist, frage ich mich.
Langsam wird mir klar, dass wir nach Hause fahren. Die Koffer stehen auf dem Flur und eine der Frauen gibt uns die Sachen wieder, die sie uns weggenommen haben. Ich bekomme meine Puppe und meinen Rucksack. Weil ich sie nicht selbst einpacke, macht das irgendjemand für mich. Die Anziehsachen, die sie mir geben, gehören mit nicht. Sie gehen gar nicht zu. Trotzdem muss ich sie tragen.
Alles läuft einfach so ab. Ich werde mal hierhin und mal dahin geschoben, sitze mal auf einer Holzbank, dann wieder auf einem gepolsterten Stuhl. Karin sitzt neben mir, aber wir sprechen nicht zusammen.
Irgendwann sind nur noch wir beide in dem kleinen Bus. Karin wird zuerst abgesetzt.
„Tschüss“, sagt sie und dann ist sie weg.
„Na, kleines Fräulein, wo wohnst du denn?“, will der Mann wissen, der den Bus fährt. Ich sehe aus dem Fenster. Weiß nicht, wo ich bin. Die Frau steigt wieder ein, nachdem sie Karin abgeliefert hat. Sie sagt etwas zu dem Fahrer und der Bus setzt sich in Bewegung. An einer Straße halten wir. Die Frau nimmt mich an die Hand und zieht mich aus dem Bus. Sie nimmt meinen Koffer und läuft mit mir die Häuserreihe entlang. Ich starre alles an, als würde ich es zum ersten Mal sehen. Mein Magen ist ein Klumpen.
Die Frau klingelt an einer Tür. Ich erkenne das schwarz – weiße Wellenmuster der Wand. Ein Summen ertönt und die Tür geht auf. Vertraute Geräusche. Eine Frau kommt die Treppe herunter. Sie hat ganz schwarze Sachen an und nimmt mich in die Arme. Ich stehe steif da wie eine Puppe.
Die Erwachsenen reden irgendwas, aber ich starre ins Treppenhaus.
„Nicole! Wir haben dich so vermisst.“
Die Frau weint. Ich erkenne sie erst, als wir in der Wohnung sind. Das orangene Telefon steht im Flur auf einem Holzbrett. Ich sehe mich um. Mama nimmt mir den Rucksack ab und zieht mir die Jacke aus.
„Lass dich mal ansehen. Hast du Hunger? Soll ich dir schnell was machen?“
Ich schüttle den Kopf.
„Willst du erst mal in dein Zimmer gehen?“
Sie schiebt mich den Flur entlang. Ich kann im Vorbeigehen einen Blick ins Wohnzimmer werfen. Es sieht aus, wie unseres. An der Tür zum Kinderzimmer bleibe ich stehen. Das kenne ich nicht! Das ist falsch! Sie haben mich in der verkehrten Wohnung abgegeben! Ich bekomme Angst.
„Geh ruhig rein. Wir haben ein bisschen renoviert, als du weg warst.“
Das Etagenbett ist weg und auch der Sessel von Tanja. Wo schlafen wir denn jetzt? Der Teppich ist braun und darauf steht eine Couch in braun und beige. Den Schrank kenne ich noch, glaube ich. Zumindest sieht er aus wie unser alter Schrank.
„Nun setz dich doch erst mal und erzähl. Oder bist du müde?“
Ich nicke.
„Dann leg dich doch ein bisschen hin. Wir essen erst in zwei Stunden. Du bist früh dran. Sabine freut sich bestimmt, dich zu sehen.“
Sie deutet auf die Couch und holt eine Decke aus dem Schrank. Kopfkissen sind da und so lege ich mich in meinen Anziehsachen hin. Ich bin froh, als Mama geht. Nichts ist so, wie ich es mir vorgestellt hatte! Ich weine ein bisschen, aber leise. Das ist nicht mein Bett! Das ist nicht mein Zimmer! Und meine Mama ist das auch nicht! Ich weiß nicht, was ich hier soll!
„Sei leise. Sie ist schon da. Ich glaube sie schläft“, höre ich irgendwann Mamas Stimme.
„Hast du es ihr schon gesagt?“ Das ist Papa.
„Nein. Sie war irgendwie komisch, als sie rein kam. Vielleicht ist das alles ein bisschen viel auf einmal.“
„Aber du musst es ihr sagen.“
„Ja, das mache ich noch. Lass sie doch erst mal ankommen.“
Papa knurrt etwas, das ich nicht verstehen kann. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und hoffe, dass sie mich hier einfach
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