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Die Suenden der Vergangenheit

Die Suenden der Vergangenheit

Titel: Die Suenden der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: May R. Tanner
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wusste, dass man ihre bleichen Knochen auf dem weitläufigen Grundstück verstreut in der tiefen Erde wieder finden würde. Auf den ersten Blick wirkte das alte Bauwerk, das früher eine Irrenanstalt gewesen war, verlassen, da es tagsüber niemals ein Anzeichen für Leben gab. Erst nachts füllte sich das Gebäude mit dem Leben der am Tag Schlafenden.
    Im Flügel der Frauen herrschte eine sehr niedergedrückte Stimmung. Die Lady des Hauses saß mit unbewegter Miene in dem großen Salon auf einer Chaiselongue, als hätten die Botschafter ihres Mannes nicht gerade niederschmetternde Kunde gebracht. Um sie herum wanden sich junge Frauen auf Knien auf dem Boden und beklagte den Verlust ihres ältesten Sohnes, des Thronerben des Lord Rukh.
    Ihr bleiches herzförmiges Gesicht war zu einer Maske erstarrt, die bar jeden Gefühls war. Das Heulen der anderen Frauen ließ ihre dunklen Augen kalt aufblitzen und nahm ihrem Antlitz jeden lieblichen Reiz, den es sonst ausstrahlte. Ihre weißen, kindlich rundlichen Schultern waren unbedeckt und enthüllten ein tiefes Dekolleté, da sie ein Kleid aus dem vorletzten Jahrhundert trug. Schwerer, dunkelgrüner Samt mit schwarzen Spitzenverzierungen. Ihre dunklen Haare waren zu einer Pompadourfrisur aufgetürmt, da ihr Mann die Moderne verabscheute. Ihr Hofstaat bestand aus Damen der höchsten Gesellschaftsschicht, die sich früher einmal auf dem englischen oder französischen Königshof getummelt hatten. Alle anderen Dienstälteren waren inzwischen verstorben. Auf mehr oder weniger natürliche Weise. Mit der Zeit verloren sie den Verstand, wenn man ihnen nicht genug Blut gab, um sie gesund zu erhalten. Und wenn man einer der Frauen überdrüssig wurde, dann ließ man sie einfach verhungern.
    „SCHWEIGT STILL!“
    Der Befehl knallte wie ein Peitschenhieb von den rot angemalten Lippen der Lady, die noch eine althergebrachte Mischung der Lippenpomade benutzte. Manchmal wünschte sie sich, ihr Lord wäre nicht dermaßen in der Vergangenheit gefangen. Ihr Lieblingssohn, Ferenc, hatte ihr immer allerlei weltlichen Tand mit ins elterliche Schloss gebracht, der sie sehr erfreute. Sie selbst war seit Jahren nicht mehr draußen gewesen, wenn sie das Bedürfnis nach menschlichem Blut verspürte, dann wurden ihr die köstlichen Gaben von den Häschern ihres Mannes gebracht.
    Einhundert eurer Kinder für den Tod meines Sohnes!
    Ihre dunklen Augen blitzten kalt auf und in ihrem Magen formte sich ein Knoten aus Vorfreude, ihre Fangzähne in das unschuldige Fleisch zu bohren. Sie würden schreien und schreien, bis sie endlich nicht mehr die Rufe ihres zu Tode gekommenen Sohnes in ihrem Kopf hörte. Ihr Mutterherz schrie nach Vergeltung und Rache.
    Mit einem leisen Rascheln ihrer gestärkten Unterröcke erhob sie die Lady von ihrer Sitzgelegenheit und kickte eine ihrer weinenden Dienerinnen ungehalten mit dem Fuß zur Seite. Sie schnaubte verächtlich, weil Ferenc sich einen Spaß daraus gemacht hatte, sich die Damen gefügig zu machen. Sie gierten doch nur nach seinem kostbaren Blut, das nun nie wieder über ihre Kehlen fließen würde. Mit gesetzten Schritten verließ sie den Raum und zog die Tür energisch hinter sich ins Schloss. Sie wollte ihren Mann aufsuchen, auch wenn sie innerlich davor zurückschreckte. Hier oben mochte sie die Herrin sein, aber sein Wort war Gesetz und sie hatte sich ihm in allen Punkten zu beugen.
    Ferenc… Oh, Ferenc!
    Er hatte ihr ein neues Leben versprochen, wie es ihrem Stand angemessen war. Er hatte es in ausschweifenden Bildern gemalt und sie hatte ihm geglaubt. Er war ein Mann der Tat, der sich in der neuen Welt auskannte. Und wenn er dabei seinen Vater vom Thron stürzte, dann war ihr das nur recht. Der Lord scherte sich einen Dreck um ihr Wohlergehen. Er wollte nur gesunde Nachkommen und jemand, der ihm das Bett wärmte, wenn ihm der Sinn danach stand. Aber hier im Schloss gab es mehr als genug Abwechslung für ihn.
    Und das war ihm nicht genug gewesen, sie erinnerte sich nur zu gut an die demütigende Erfahrung, als er zwei Frauen ihrer Feinde verschleppt hatte. Zwillinge. Eine hübscher als die andere und beide blutjung, so wie es der Lord am liebsten hatte. Er hatte sie geschwängert, doch sie waren ihm entkommen. Irgendwo da draußen lebte ein Bastard, der ihm ähnlich war und ihr Herz krampfte sich vor Verbitterung zusammen, dass er diese Frauen ihr vorgezogen hatte. Es war über dreihundert Jahre her und doch hatte sie diese Demütigung niemals verwunden.

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