Die Suenden der Vergangenheit
Sollte sie jemals einer von ihnen begegnen, dann würde sie nicht zögern, sie in Stücke zu reißen.
° ° °
Im anderen Flügel der ehemaligen Irrenanstalt war der Lord die steinernen Stufen in den Keller hinab gestiegen, wo man früher die schlimmsten Fälle in Einzelzellen verwahrt hatte. Man konnte noch ihre Verzweiflung und ihre Angst riechen, wenn man für so etwas empfänglich war. Das Gebäude gehörte ihm seit etwas über zweihundert Jahren und war zumindest hier unten nicht modernisiert worden. (Nicht dass der Rest den heutigen Standards auch nur annähernd entsprach).
Er trug eine stählerne Box in den Händen und sein langer Mantel schleifte leise auf dem Boden, während er die düsteren Gänge ohne Beleuchtung abschritt, weil er im Dunklen am besten sah.
Er erreichte das Ende eines Ganges, wo er eine Eisentür mit einem vergitterten Fenster aufstieß, ohne vorher anzuklopfen. Als er die karge Behausung betrat, verzog Lucretius angewidert sein aristokratisches Gesicht, das von wallenden weißblonden Haaren eingerahmt war, die ihm über die Schultern fielen. Trotz seiner beinahe 3000 Tausend Jahre wirkte er keinen Tag älter als Mitte Vierzig und auf animalische Weise attraktiv. Er konnte auch verlocken, wenn er zum Spielen aufgelegt war. Es war so leicht, den menschlichen Geist zu verführen und zu brechen. Absolut keine Herausforderung mehr für ihn.
Aber Immaculate-Frauen … Er dachte immer noch an die kämpferische Schönheit, die er monatelang sein eigen hatte nennen dürfen. Der Verlust hatte ihn rasend gemacht, weil er zu gerne einen Sohn mit ihr gezeugt hätte. Einen mächtigen Thronerben. Ferenc war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen, da er sich seiner Mutter zu sehr verpflichtet fühlte. Sie war doch nicht mehr als ein nötiges Übel, das dazu diente, seine Söhne zu nähren. Trotzdem würde er diesen Verlust nicht einfach so hinnehmen.
Sein Blick fiel auf einen grauen, ungepflegten Haarschopf, der sich über einen schmalen Rücken beinahe bis auf den Boden ergoss, weil die Person an einem Holztisch saß. Sie schwankte in alle Richtungen und war in einen unverständlichen Singsang verfallen, der schon nach wenigen Augenblicken an seinen Nerven zerrte. Mit ausholenden Schritten trat er an den Tisch und knallte die Box mit einem metallischen Scheppern auf den Tisch vor die Frau, so dass er die Tierknochen, in denen sie anscheinend gelesen hatte, darunter zu Staub zermalmte.
„Erklär mir das, alte Frau!“, verlangte Lord Rukh mit täuschend sanfter Stimme, die sich wie das Zischen einer Schlange anhörte.
Nahimana*, die alte Seherin aus dem Volk der Sioux, zuckte nicht einmal zusammen, als man ungefragt ihr kleines Reich betrat. Durch ihren überlangen, unordentlichen Pony hindurch starrte sie mit blutunterlaufenen Augen zu ihrem Herrn und Meister auf, ohne die geringste Furcht zu zeigen. Dazu lebte sie schon zu lange unter seinem Dach. Sie lebte schon viel zu lange, das war wider die Natur. Sie zählte nun schon beinahe dreihundert Jahre. Sie war von dem Bösen heimgesucht worden, da war sie schon eine Großmutter gewesen und nun lebten nicht einmal mehr ihre Kindeskinder. Sie wollte nur noch in die Ewigen Jagdgründe eingehen und ihre Brüder und Schwestern um Vergebung für ihren Verrat bitten.
(*Sioux für mystisch)
Ihre knochigen Hände mit den dicken, hervorquellenden Venen und der pergamentartigen Haut zogen die schwere Kiste zu sich her, um den Deckel nach hinten zu klappen. Sie musste sich auf ihre dürren, zitternden Beine erheben, um hineinsehen zu können und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als ihr die vom Tod gezeichnete Fratze mit weit aufgerissenen Augen entgegen starrte. Der schlechte Samen hatte ein grausames Ende gefunden.
Nahimana konnte nicht von sich behaupten, dass ihr der Verlust leid tat. Zu oft hatte sie der Spross des Hauses mit Hohn und Spott bedacht. Sie hatte sein Ende kommen sehen, aber nicht gewusst, wie es ihn ereilen würde.
Unter dem scharfen Blick des Hausherren schob sie ihre Hand in die Kiste und bedeckte seine Augen und die Stirn damit. Wieder ein Singsang und das Schwanken ihres ausgemergelten Körpers, der schon lange nicht mehr genug Nahrung erhielt. Es war ein Wunder, dass sie nicht komplett verrückt geworden war.
„Ich kann nichts sehen… Ich bin zu schwach! Zu nichts mehr nutze!“, brachte die Seherin schließlich mit brüchiger Stimme hervor.
Lord Rukh knurrte böse und packte die Alte mit eisenhartem Griff über den
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