Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
Küchentür einfand, um meine Hilfe anzubieten, wurde ich Zeuge jenes Ereignisses, das mein ganzes Leben verändern sollte. Anne-Marie, die schon etwas in die Jahre gekommene Küchenhilfe, stolperte auf dem Weg zur Spüle mit einem Blech Brioche in den Händen, stürzte und brach sich dabei den rechten Arm. Es war kein schlimmer Bruch – keine Knochen, die aus der Haut ragten oder dergleichen – , aber offenkundig schmerzhaft. Anne-Marie winselte vor Schmerz, und alles war ein einziges hektisches Durcheinander. Man ließ den Arzt aus dem Dorf kommen, der wiederum ließ Anne-Marie ins Krankenhaus bringen, und wir sollten sie bis zu unserer Abreise nicht wiedersehen. Da ich nun aber schon mal da war und der Laden ja irgendwie weiterlaufen musste, zeigte Madame mir, was mit der Brioche geschehen sollte (mit Wasser besprenkeln und in den Ofen schieben), und verpflichtete mich gleich für den Rest der Woche zum Küchendienst. Welch eine Offenbarung! Ich lernte schnell, und am Ende des Tages hatte ich die erste Vinaigrette meines Lebens zubereitet, Forellen gedämpft (!), einen ganzen Sack Karotten in feine Streifen geschnitten und Zucchini sautiert. Natürlich brauchte es eine Weile, bis ich mich an eine sauce velouté wagte oder barquettes aux pêches aus dem Ofen zauberte, aber ich fand mich ins Kochen wie eine canard à l’eau , will sagen, in der Küche w ar ic h in meinem Element. Madame war eine erstklassige Lehrerin, aber ich war auch, wenn ich das so sagen darf, ein erstklassiger Schüler. Außerdem konnte ich jetzt im Haus bleiben, bei einer Arbeit, die mir wirklich Spaß machte. Und obwohl es, wenn beide Öfen auf Hochtouren liefen, auch in der Küche bullig heiß wurde, war das der unmenschlichen Plackerei auf den Feldern bei weitem vorzuziehen.
Als ich an jenem Abend in unser Quartier zurückkehrte, glühte ich geradezu vor Begeisterung. Während Oliver annahm, Madame habe mein Interesse wecken können, hatte ich längst vergessen, dass ich sie eigentlich verführen sollte.
Natürlich gefiel Laura das alles gar nicht. Sie schäumte vor Wut. Ihr Bruder machte sich in der Küche ein schönes Leben, und ihr Liebster spielte in der Bibliothek den gelehrten Gentleman. Und was war sie? Eine Landarbeiterin! »Aber dafür siehst du blendend aus«, versuchte ich sie zu beschwichtigen. Von der harten Arbeit unter freiem Himmel hatte sie richtige Muskeln bekommen und, nachdem die erste Phase des Sonnenbrands ausgestanden war, auch eine schöne Bräune. Meine Schwester glich einer Amazonenkriegerin. Das Kompliment kam jedoch nicht gut an. Laura beklagte sich, dass sie ständig müde sei und sich ausgeschlossen fühle. Ich werde es bis ans Ende meiner Tage bereuen, ihrem Kummer nicht mehr Beachtung geschenkt zu haben.
In den nächsten Tagen unternahm ich ein paar klägliche Versuche, mit Madame zu flirten, die bei ihr jedoch auf ebenso wenig fruchtbaren Boden zu fallen schienen wie bei mir. Die Sprachbarriere machte es nicht gerade einfacher, aber ich wollte Oliver auf keinen Fall enttäuschen. Er hatte mir ein paar Tipps gegeben. Theoretisch wusste ich also, was zu tun war.
Am Ende eines besonders heißen und stickigen Tages strich ich ihr ein paar verschwitzte Strähnen aus dem Gesicht und fragte, ob ich ihr Haar kämmen dürfe. Laut Oliver eine todsichere Strategie. Sie war ein wenig irritiert, willigte dann aber ein. Oliver hatte recht gehabt. Frauen lieben es, sich die Haare machen zu lassen. Während ich vor mich hinkämmte, kam mir ein richtiger Geistesblitz. Madame hatte ziemlich lange Haare, also teilte ich zwei dicke Strähnen ab und verflocht sie so miteinander, dass sie einen losen Knoten am Oberkopf bildeten. Ein Geniestreich! So einfach und doch so unglaublich chic . Ich hatte soeben eine neue Frisur kreiert! Wie klischeehaft von mir. Tatsächlich handelte es sich um nichts anderes als um einen Chignon, wie er im Paris der Vierziger Jahre Mode gewesen war, aber woher hätte ich das wissen sollen? Noch nie hatte ich eine Frau frisiert, und Madame mochte eine Meisterin der bain-maries und sabayons sein, aber in Sachen Stil war sie ein hoffnungsloser Fall. Auf den Kopf gefallen war sie indes nicht.
»Tu es homosexuel?« , fragte sie mich.
Glücklicherweise ließ sich das recht leicht übersetzen.
»Oui« , sagte ich. Dann weinte ich eine ganze Stunde lang.
Madame war furchtbar nett. Ich habe bis heute keinen blassen Schimmer, was sie zu mir gesagt hat, aber immer wieder legte sie sich den Finger an
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