Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
die Lippen, um mir zu bedeuten, dass sie mein Geheimnis wahren würde. Sie schien kein bisschen beunruhigt, ließ mich weder aus dem Haus werfen, noch lachte sie mich aus oder schien entsetzt. Für sie war die Sache ganz klar, als hätte sie es schon immer gewusst. In kläglichem Französisch und per Zeichensprache gestand ich ihr, in Oliver verliebt zu sein. Nun gut, das schien sie dann doch ein wenig zu schockieren. Schließlich wusste sie, wie alle anderen auch, dass Oliver mit meiner Schwester zusammen war. Madame schloss mich ganz mütterlich in die Arme und redete Unverständliches auf mich ein, wobei sie immer wieder den Hang hinter dem Château hinaufdeutete. Ich dachte, sie meinte, dass ich einen Spaziergang machen solle. Das tat ich; geholfen hat es nichts.
Als ich an jenem Abend zurück in unser Quartier kam, wollte Oliver wissen, wie ich mit der Verführung vorankomme.
»Bestens«, sagte ich.
Zunächst schien sich wenig geändert zu haben. Ich litt noch immer still vor mich hin, nur dass ich mich jetzt von Madame Véronique ertappt fühlte, wenn ich Oliver inmitten seiner neuen Familie, mit Monsieur und dem Jungen, beobachtete. Schlimm genug, dass einem die eigene Schwester Konkurrenz machte, nun musste ich auch noch mit Madame Véroniques Familie mithalten. Ob sie auch eifersüchtig auf die Zeit war, die ihr Vater und ihr Sohn mit Oliver verbrachten? Ich glaube, Madame wusste genau, was in mir vorging. Manchmal lächelte sie mich mitfühlend an, meist gab sie mir einfach irgendetwas zu tun. Ich versuchte, meine Eifersucht zu verdrängen, stürzte mich in die Arbeit und lernte, so viel ich nur konnte.
Ein paar Tage darauf stellte Madame mir Maurice vor, einen stämmigen kleinen Gemüsebauern, der oben am Hang einen Hof habe. Maurice sprach besser Englisch als Madame und gab mir beiläufig zu verstehen, dass Madame ihm gesagt habe, ich sei pédé . Er sei auch schwul, und wenn ich wolle, könne er mich in einen Nachtclub nach Bordeaux mitnehmen, um dort andere Männer kennenzulernen. Ich lief knallrot an, Maurice lachte, und noch am selben Abend sollte ich meine Unschuld an den göttlichen Thierry verlieren, einen Schweine züchtenden Transvestiten aus Saint Emilion. In jener Nacht fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hierher gehörte ich. Es war eine seltsame Welt, doch es war meine Welt. Manchmal träume ich noch immer davon, neben Thierry aufzuwachen.
Am nächsten Morgen fand ich mich verspätet zum Küchendienst ein. Madame zwinkerte mir zu, grinste und machte ein paar anzügliche Gesten. Welch eine wunderbare Frau! Oliver wollte natürlich wissen, wo ich gesteckt hatte. Ich erfand irgendeine Geschichte, aber er schien zu wissen, dass ich nicht bei Madame gewesen war, und ließ mich seine Enttäuschung spüren. Doch seine Missbilligung, die mir bislang so zu schaffen gemacht hatte, kratzte mich nicht mehr. Meine Gefühle für ihn hatten sich praktisch über Nacht gewandelt. Er würde mein sexuelles Interesse niemals erwidern, wozu dann also die ganze Aufregung? Meine Ausreden konnten Oliver nicht täuschen. Kurzerhand rückte er sein Bett ans andere Ende unseres Quartiers. Darüber gesprochen wurde dennoch nicht. Laura hingegen war nun, da sich mein Augenmerk nicht länger auf Oliver richtete, erstaunlich nachsichtig. Sie half mir sogar bei meinen abendlichen Verabredungen, organisierte Mitfahrgelegenheiten in die Stadt und stellte mich anderen Männern vor, die sie für schwul hielt. Mein Sommer entwickelte sich zu einem hedonistischen Rausch, der nicht ahnen ließ, in welcher Tragödie alles enden würde.
Mitte August klagte Laura noch immer über Erschöpfung und begann den anderen langsam auf die Nerven zu gehen. Am Anfang hatten alle über die harte Arbeit geklagt, aber da durfte man eben nicht zimperlich sein, und irgendwann hatte man sich daran gewöhnt. Im Nachhinein betrachtet, muss sie sich ziemlich alleingelassen gefühlt haben, wie sie sich da draußen auf dem Feld abrackerte, während ihr Bruder und ihr Freund im Haus praktisch ihren Hobbys nachgingen. Natürlich hatte sie noch die anderen aus unserer Gruppe, aber uns beiden stand sie eben am nächsten. Ich war jedoch viel zu sehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt, als dass ich mir groß Gedanken über meine kleine Schwester gemacht hätte, auch wenn es mit ihrer Beziehung zu Oliver ganz offensichtlich nicht zum Besten stand. Er verbrachte immer weniger Zeit mit ihr und war meist mit dem alten Mann und dem Jungen zusammen.
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