Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
immer, man soll versuchen, mit den Leuten zu reden, damit sie wach bleiben, denn wenn sie erstmal das Bewusstsein verlieren, sind sie schon so gut wie tot. Und so habe ich also mit ihr geredet, habe ihr gesagt, sie soll durchhalten, und sie hat mich angeschaut, mit ihren wunderschönen Augen, die ich mein ganzes Leben geliebt habe, auch wenn ich kein Recht dazu hatte. Sie hat versucht, mir etwas zu sagen, aber ich habe ihr gesagt, sie soll sich ihre Kraft aufsparen, und es war so schrecklich, all das Blut aus ihr herauskommen zu sehen, und dann habe ich sie einfach nur noch in den Armen gehalten und ihr immer wieder gesagt, es würde nicht mehr lange dauern, halte durch, Liebste, halte durch. Ein Wort hat sie noch gesagt, und ich wusste schon, was es war, ehe sie es ganz ausgesprochen hatte. »Eugene«, hat sie gesagt und dann das Bewusstsein verloren.
Der Krankenwagen ist gekommen und hat sie weggebracht, dann die Polizei, und da ist mir wieder eingefallen, dass Oliver noch immer bei mir im Hausflur sitzen müsste, und ich mag ja vielleicht nicht der Hellste im Oberstübchen sein, aber mittlerweile war sogar mir klar, dass nur er es gewesen sein konnte. Ich musste wieder daran denken, wie kaltschnäuzig er früher am Abend im Nash’s gewesen war, wie er mir die Packung Kippen zugeworfen hatte. Es war ihr Blut, das an ihm klebte. Und so habe ich der Polizei gesagt, wo er war. Als sie ihn abgeführt haben, hat er mich angeschaut, und da war nichts mehr von seiner Lässigkeit und seinem großspurigen Selbstvertrauen, und da ist mir auf einmal klar geworden, dass er noch so klug und gebildet sein mochte, noch so vornehm und reich, dass ich aber ein besserer Mensch gewesen war als er. Schon immer.
Vor all den Jahren, als er sie mir weggeschnappt hatte, habe ich mich nie zur Wehr gesetzt. Ich hatte es einfach so hingenommen, habe ihm praktisch meine Erlaubnis gegeben. Ich hatte gedacht, Alice hätte jemand Besseren als mich verdient. Ich hätte um sie kämpfen sollen.
Am nächsten Tag habe ich sie im Krankenhaus besucht, aber ihr Zustand war unverändert, und sie hat das Bewusstsein nie wiedererlangt. Jetzt besuche ich sie ein-, zweimal die Woche, halte ihre Hand und rede mit ihr, denn in den Filmen funktioniert das manchmal, und es kommt mit den Leuten alles wieder in Ordnung. Ich habe alles Mögliche versucht, habe ihr Musik mitgebracht, die sie früher gemocht hat, und ihr Kopfhörer aufgesetzt, aber sie hat nie eine Reaktion gezeigt. Einmal, als ich so an ihrem Bett saß und erzählte, wie wir damals in Galway und ganz betrunken waren von dem Port, da hat sie auf einmal die Augen geöffnet. Ich habe sofort nach den Ärzten gerufen, aber die haben nur gemeint, das hätte nichts zu bedeuten. Dass sie die Augen geöffnet hätte, würde nicht heißen, dass sie wieder in Ordnung käme. Ich habe mal einen Film gesehen, irgendwas Amerikanisches oder so, wo ein Typ genau wie sie im Koma gelegen hat, aber er hat alles mitbekommen, was um ihn her vor sich ging, und eins seiner Augen hat sich ständig bewegt und jede Bewegung im Zimmer verfolgt. Aber wenn Alice jetzt von Zeit zu Zeit die Augen öffnet, sieht es nicht so aus, als würde sie etwas wahrnehmen, es ist eher so, als würde sie blinzeln, nur andersherum, wenn Sie wissen, was ich meine. Manchmal lächelt sie. Ich hoffe, sie erinnert sich an schöne Zeiten.
Mittlerweile glaube ich nicht mehr daran, dass ihr Zustand sich bessert, aber ich gehe sie noch immer besuchen und rede mit ihr, denn man kann ja nie wissen.
Ich habe auch wieder angefangen Eugene zu besuchen. Er ist noch immer derselbe verrückte Kerl wie früher. Hat sich riesig gefreut, mich zu sehen. Neulich hat er mich mitsamt meinem Stuhl hochgehoben, und schon sind wir durch die Luft geflogen! Ich habe mir fast in die Hose gemacht vor Angst, und eine der Schwestern hat Eugene angebrüllt, er soll mich sofort wieder runterlassen, aber mein Gott, was haben wir gelacht!
Oliver hat mir die Vormundschaft für Eugene übertragen. Das lief alles über Anwälte. Die Sache war etwas kompliziert, weil Alice als Eugenes nächste Angehörige zwar noch lebt, aber nicht bei Bewusstsein ist und Oliver als ihr nächster Angehöriger sie beinah totgeschlagen hat. Oliver hat mich doch allen Ernstes gefragt, ob ich mal kommen und ihn besuchen würde. Anscheinend will er sich »erklären«. Das kann er sich sonstwohin stecken.
Genug von ihm. Ich werde Eugene aus dem Heim zu mir nach Hause holen. Ziemlich viel Papierkram
Weitere Kostenlose Bücher