Die Suendenburg
antun. Wehtun, ja, das war etwas anderes. Töchter tun Müttern andauernd weh, das ist ihr gutes Recht. Aber bei allem Streit, den ich mit ihr in zwanzig Jahren ausgefochten habe und immer noch ausfechte, ist sie die Frau, die mich geboren hat und mich irgendwo, in einer mehr oder weniger großen Ecke ihres Herzens, liebt. Und wenn ich mit absoluter Sicherheit wüsste, dass sie Vater ermordet hat, so würde ich sie dafür lautstark hassen und ihr im Stillen verzeihen.
Ich wartete noch eine Weile auf Malvin. Nun, da ich wusste, weshalb er zurückgekehrt war, war es umso wichtiger für mich, mit ihm zu sprechen. Doch ich harrte vergeblich. Schließlich kam ich auf den Gedanken, dass er womöglich in meinem Gemach auf mich wartete, so wie ich in seinem auf ihn. Also ging ich zurück, was ohne Zwischenfälle verlief. Doch ich traf ihn auch dort nicht an, und es sprach nichts dafür, dass er mein Gemach betreten hatte.
Wo bist du, Geliebter? Gerade jetzt, in dieser Nacht, in dieser schwersten Stunde, bräuchte ich deinen Rat und Beistand.
Kara
Ich erwachte von Rufen. In der Burg brach Unruhe aus. Jemand schrie: Baldur ist tot, Baldur ist ermordet worden, Baldur liegt tot in der Scheune, benachrichtigt den Grafen, Baldur ist verblutet. Und ein vielstimmiges, sich endlos brechendes Echo antwortete: Baldur ist tot, ermordet, in der Scheune, verblutet.
Er ist gestorben wie Agapet. Ich sehe das Stroh vor mir, auf das er gebettet ist, feucht und rot, und seine im Erschrecken erstarrten Augen. In den letzten Wochen habe ich mich zu meiner eigenen Betroffenheit von ihm angezogen gefühlt, und ich gab mich ihm hin, ohne dass er es erzwungen hätte. Ich lag oft mit ihm in jenem Stroh, das nun sein Leichenbett ist. Ich bin wieder frei, allerdings nicht in einem körperlichen Sinn – soeben marschierte eine Wache vor meiner Tür auf, die zweifellos abgestellt wurde, dafür zu sorgen, dass ich das Gemach nicht mehr verlasse. Aber ich bin frei von der Zuneigung, die ich empfand, bevor ich mich zu Baldur legte, von der Erregung, die ich empfand, während ich bei Baldur lag, und von der Reue, die ich jedes Mal empfand, nachdem ich aus freien Stücken bei Baldur gelegen hatte. Ich bin frei von seiner Liebe zu mir, die anfangs roh und gewalttätig, zuletzt zärtlich und ergeben, immer ungewöhnlich und nie unaufrichtig war. Ich werde ihn nicht vermissen.
Zwei Federn sind noch übrig. Wenn die Götter nicht gelogen haben, müssen noch zwei Menschen sterben.
Claire
Als ich vor einiger Zeit glaubte, bald sterben zu müssen, war das Schreiben wie ein Abschied gewesen. Heute ist es wie ein Anfang, da die Schrift schon morgen meine einzige Sprache sein wird. Es hat alles nichts genutzt. Weder die ewigen Lügen noch das kurze, große Glück, weder die bösen noch die guten Taten konnten mich vor dem Schicksal bewahren, das mir bevorsteht: verstümmelt und gebrandmarkt zu werden. Mein kleiner Sohn wird nie den Klang meiner Stimme hören, und damit nicht genug, wird er mich verwünschen wegen des Makels seiner Geburt als Bastard. Vielleicht ist das gerecht. Vielleicht war der heutige Tag, so wie er verlaufen ist, die schlüssige Folge und der folgerichtige Schluss der Kette von Lügen, die das letzte Jahr durchzog.
Wir standen am Morgen – allesamt in unsere weißen Trauergewänder gehüllt – vor der Scheune, als Baldur herausgetragen wurde, und sahen ihn ein letztes Mal an: ein besiegter Goliath, auf dem Schild liegend, getötet, als er es nicht erwartet hatte. Wie vielen Schwerthieben hatte er getrotzt, wie vielen Pfeilen war er ausgewichen, um dann bei Nacht im Stroh die Kehle durchschnitten zu bekommen! Er hatte zu Lebzeiten nie das Format zum Helden gehabt, dafür war er zu grobschlächtig und leutselig gewesen. Von Helden wird erwartet, etwas Edles und Einsames an sich zu haben. Sein Tod passte zu seinem Leben, denn er war blutig, ohne ehrenwert zu sein, und unglücklich, ohne tragisch zu sein. Baldur hatte mich vernichten wollen, nun war er selbst vernichtet worden. Daran war nur wenig Dramatisches, aber viel Gewöhnliches.
Als wir nach dem Gottesdienst aus der Kapelle traten, richtete der Vikar das Wort an die Menge.
»Baldur ist ohne Zweifel ermordet worden, und zwar auf dieselbe Weise wie sein Schwiegervater, Graf Agapet. Ich verspreche, dieses Verbrechen sehr bald aufzuklären und euch die Pein, die über der Burg liegt, zu nehmen. Schon morgen zu dieser Stunde werde ich ein Racheverfahren eröffnen, zu dem ich noch zwei
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