Die Suendenburg
Schöffen berufen werde. Was nun Baldurs Anklage betrifft – wie ihr vermutlich alle wisst, hätte heute Mittag ein Gericht stattgefunden, um die Anklage gegen eure Gräfin zu behandeln. Mit Baldurs Leben ist auch sein Vorwurf erloschen, und ohne einen solchen bin ich, der Vertreter königlicher und herzoglicher Gerichtsbarkeit, in diesem Fall nicht bereit, eine Inquisitio einzuleiten. Wer noch etwas dazu sagen möchte, sollte dies jetzt tun oder für immer schweigen.«
Mein Blick fiel auf Elicia. Sie war die Einzige, vor der ich mich fürchtete. Denn wer sonst hätte mich nun noch beschuldigen sollen? Außer Aistulf und meiner treuen Bilhildis waren nur der Geistliche und das leibeigene Gesinde anwesend, darunter auch die drei jungfräulichen Witwen, die sich während meiner Erschöpfung aufopferungsvoll um den kleinen Richard und mich gekümmert hatten. Noch am Morgen hatten sie gesungen: Mitten in glücklicher Fahrt / treibet des Menschen Verhängnis / auf verborgene Scheiterklippen.
Elicia schwieg. Sie hatte die Wahrheit schon früh erspürt und lange für sie gefochten, aber in dem Augenblick, da sie zwischen der Wahrheit und meiner Unversehrtheit zu wählen hatte, entschied sie sich für mich. Mehr noch, ihr Schweigen war gleichbedeutend mit ihrem Verzicht auf die Würden, die sie für sich und vielleicht auch für ihr ungeborenes Kind erhofft hatte. Ich sah sie voller Dankbarkeit an. So enttäuscht und verbittert sie auch sein mochte, sie hielt in der entscheidenden Stunde zu mir. Ich werde ihr das nie vergessen. Alle Opfer, die ich gerne für meine Tochter erbracht habe, erwiesen sich mit ihrer Treue, die eigentlich Liebe war, als gerechtfertigt. Sie war sich nicht darüber im Klaren, dass sie mir gleichsam Liebe zurückzahlte, aber ich kenne Elicia gut genug, um mir sicher zu sein, dass tief in ihr so manches flüstert, dessen Befehlen sie folgt, im Guten wie im Schlechten.
Ich war gerettet – drei oder vier Atemzüge lang. Da trat Bilhildis vor. Sie streckte den Arm aus, deutete auf mich und presste mit aller Kraft ihrer Kehle unverständliche, schauderhafte Laute hervor, deren Sinn offensichtlich war. Mir war, als belle die Hölle selbst mich an. Gerade als ich mich fragte: Warum? Warum Bilhildis?, sah ich eine Träne aus ihrem rechten Auge kullern. Doch es war keine Träne der Trauer oder des Schmerzes, es war eine Freudenträne, viele Jahre alt, und ihr Stöhnen war in Wahrheit ein furchtbares Lachen, das sie sich für diese Stunde aufgehoben hatte.
Ich brach zusammen.
Bilhildis
Claire ist so gut wie erledigt, morgen habe ich es geschafft. Dem Vikar blieb aufgrund meiner Anklage nichts anderes übrig, als für morgen ein Gottesurteil anzuberaumen: Die Gräfin muss barfuß fünfzig Schritte über glühende Kohlen gehen, und falls sie Brandwunden davonträgt, gilt sie als schuldig. Das Ergebnis dürfte feststehen. Man wird sie umgehend verstümmeln, und Aistulf wird man als ihren Buhlen nackt auf einen Esel setzen, mit Ruten blutig schlagen und davonjagen.
Die Kerkermeisterin meines Lebens büßt für alles. Endlich ist der Tag gekommen. Fast dreißig Jahre lang habe ich darauf gewartet. Ich kann es noch gar nicht fassen. War ich je froher? Da Baldur in der Nacht aufgeschlitzt wurde, war es mir vergönnt, nicht nur Zeugin, sondern Anklägerin zu sein. Der Augenblick, als ich im Beisein aller auf sie zeigte, war unüberbietbar. Ich schrie. Ich schrie innerlich: Seht, da ist sie, die Frau, die mir meine körperliche Ganzheit nahm, die mir meine Stimme nahm, die mir den Mann nahm, der mich als junge Frau geliebt hatte, und die später den Mann hatte, den ich liebte. Auge um Auge, schrie ich, Zunge um Zunge.
Ihren Blick hättest du sehen sollen, Leser in ferner Zeit: Zunächst hat sie nichts verstanden und dann alles. Ja, sie hat begriffen, wie sehr ich sie all die Jahre hasste, und sie strauchelte unter der Last der Erkenntnis. Aber diese Erkenntnis kommt zu spät für sie. Sie selbst hat mir mit dem Freilassungsbrief gleichsam die Zange in die Hand gedrückt, mit der ich sie nun quetsche. Das Blut, das mir in diesem Moment aus dem Maul tropft, gebe ich gerne her, weil ich weiß, dass es Claire morgen genauso gehen wird. Und danach – übermorgen?
Nachdem ich Claire angeklagt hatte, ging ich zu Orendel, der, wie ihm von mir geheißen, sein Gemach nicht verlassen hatte. Trotzdem hatte er von plapperndem Gesinde, das an seinem Gemach vorbeigegangen war, bereits von Baldurs Tod gehört.
»Das waren
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