Die Suendenburg
aber sie war zu schwach und zu alt, sie kam nicht gegen meine Entschlossenheit und die Kraft meiner Arme an. Ich hob die hagere Gestalt hoch und drückte sie mit aller Gewalt gegen das enge Fenster. Fast passte sie nicht hindurch. Der Kampf dauerte eine Weile, aber endlich glitt die Alte mir aus den Händen und fiel in jenes Dunkel, in das sie eben noch ihr Blut gespuckt hatte. Dort verschwand sie, stumm.
Ich hörte sie erst schreien und dann lachen, als ich wusste, dass dies nicht wirklich von ihr kam, sondern in meinem Kopf entstand. Sie lachte mich aus. Sie lachte aus demselben Grund, aus dem der Gekreuzigte mich, während ich diese Zeilen schreibe, spöttisch anlächelt. Nun bin ich doch noch zum Mörder geworden.
Es hätte reichlich Gründe für mich gegeben, Elicias Nähe zu suchen – die erste gemeinsame Nacht nach vier Monaten der Trennung, die aufwühlenden Geschehnisse des Tages, die Planung unserer Zukunft –, doch ich ging am gestrigen späten Abend, nachdem ich Bilhildis in den Tod gestoßen hatte, hauptsächlich aus einem Grund zu ihr: Ich wollte mich der Frau versichern, für die ich zu einem von denen geworden war, die ich Tag für Tag dem Henker überantwortete. Ich hätte Bilhildis nicht töten müssen, es wäre mir ohne Weiteres möglich gewesen, ihr den Stein zu entwinden und sie unschädlich zu machen, ohne sie aus dem Fenster in die Tiefe zu stoßen. Nun wollte ich mich versichern, dass es mir nichts ausmachte, ein Mörder zu sein, indem ich sah, fühlte und erlebte, für wen ich es geworden war.
Als ich die Kemenate betrat, saß Elicia im Halbdunkel vor dem Spiegel. Ein schöneres Bild hätte ich mir nicht vorstellen können. Das Gefühl, von dem ich eben sprach, stellte sich sofort ein. Es war, als erteilte mir allein ihr Anblick die Absolution für das begangene Verbrechen. Der Fluch war von uns genommen. Unser Glück konnte beginnen. So dachte ich.
Meine Sinne waren ganz auf Elicia gerichtet. Die einzige Frage, die mich noch ablenkte, war, wie viel ich Elicia offenbaren sollte von dem, was ich getan hatte. Wäre es besser, sie im Unklaren zu lassen, ihr die Wahrheit zu verschweigen, oder sollte ich mich ihr vollständig anvertrauen?
Ich hatte mich noch nicht entschieden und wollte mich langsam an meine Antwort herantasten, als ich fragte: »Wie ist es mit Bilhildis gegangen?«
Sie schwieg.
Ich trat von hinten einen Schritt näher an Elicia heran.
»Sag schon, hat dein Bitten sie erweichen können?«
Keine Antwort. Es war, als hätte sie mich gar nicht gehört. Sie betrachtete ihr Spiegelbild, und als ich mich einen weiteren Schritt näherte, sah ich das Blut auf ihrem Gesicht, auf ihrem Hals, auf dem Kleid …
»Elicia, was ist mit dir?«
Ich tastete sie ab, konnte aber keine Verletzung entdecken. Da erinnerte ich mich des Bluts, das Bilhildis gespuckt hatte.
»Sie wird dir nichts mehr antun, Geliebte. Ganz sicher nicht. Denn weißt du, sie ist tot. Ja, wirklich, tot. Wisch das Blut ab und vergiss, was passiert ist. Bitte, Elicia, wisch es ab. Sieh mich an, ich bitte dich. Sieh mich an.«
Sie antwortete auf nichts, was ich sagte oder tat, betrachtete sich im Spiegel, sah sich selbst in die Augen. Erst als ich mich zwischen sie und den Spiegel stellte, nahm sie mich wahr, aber auch dann blieb ihr Blick seltsam abwesend.
»Leg dich hin, Geliebte. Schlaf ein wenig. Komm, ich helfe dir. So ist es gut.« Ich trug sie zum Nachtlager. »Die Schlange hat zum letzten Mal zugebissen. Morgen geht es dir wieder gut, du wirst sehen. Aber bitte, sag ein Wort, ja? Irgendein Wort, damit ich weiß, dass du zurückkommst von dort, wo – wo auch immer du gerade bist. Oder sieh mich ein einziges Mal an, wie du mich früher angesehen hast.«
Mein Flehen ging bei ihr unter wie Herbstlaub in einem Waldsee. Mir blieb nur, ihr Gesicht zu waschen, sie von dem blutigen Gewand zu befreien und zur Nacht zu betten. Ich entzündete beide Feuer sowie einige Öllampen, sie wärmten das kalte Gemach und verbreiteten Wohlgeruch. Nach einer Weile schloss Elicia die Augen zum Schlaf und ich die meinen zum Gebet.
Ein einziges Mal in der Nacht erwachte Elicia. Sie richtete sich auf und rief: »Vater? Vater!«
Ich eilte zu ihr und beruhigte sie, obwohl sie mich nicht wahrnahm. Seit ich sie kannte, waren wir noch nie weiter voneinander entfernt gewesen als in diesem Augenblick, da ein Traum uns trennte. »Nur ein Wort zu mir. Nur ein Blick, Elicia.« Kein Wort und kein Blick.
Kaum ein Gefühl schmerzt mehr als
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