Die Suendenburg
ungeheure Verbitterung, weil sie es zugelassen hatte, dass Agapet ihre drei gemeinsamen Söhne in den Krieg mitgenommen und dort wie Brennholz verheizt hatte, während die Gräfin ihren eigenen Sohn auf mutige und ungewöhnliche Weise gerettet hatte. Ein Teil ihres Zorns auf Claire war in Wahrheit ihr Zorn auf sich selbst, den sie sich jedoch nicht eingestand. Und dann hatte der Mann, dem sie ihr halbes Leben gewidmet hatte, eine junge Ungarin mitgebracht, von der er sich wünschte, dass sie Bilhildis ersetzen sollte. Daraufhin hatte Bilhildis die Rolle eingenommen, die sonst die betrogene Ehefrau einnahm, die Rolle der Rächerin. Sie hatte zuerst Agapet getötet und war nun dabei, Claire zu töten.
Es hätte viel für mich zu tun gegeben: Ich musste mit der Gräfin wegen ihres Sohnes sprechen, ich musste Elicia einweihen – doch vor allem und zuerst musste ich Bilhildis zu einem Geständnis zwingen, denn ihr Text taugte kaum dazu, sie des Mordes zu überführen, wohingegen er dazu angetan war, die Gräfin, Elicia und mich in arge Bedrängnis zu bringen. Wenn es gelänge, die Schuld aus ihr herauszupressen … Sollte ich sie, eine Anklägerin und Zeugin, einem peinlichen Verhör unterziehen und sie auf die Streckbank legen? Das empfahl sich nicht. Es war besser, ihr für ihr Geständnis irgendetwas anzubieten – was jedoch schwierig sein würde, da sie durch ihre Krankheit dem Tode geweiht war. Oder sie einzuschüchtern, was aus demselben Grund schwierig sein würde. Diese Frau hatte nichts mehr – keinen Glauben, keine Zukunft, kaum noch Leben. Sie hinterließ niemanden außer einem Mann, der ihr gleichgültig zu sein schien. Welches Angebot kann man einem solchen Menschen machen, welche Strafe gegen ihn verhängen, welche Drangsal ihm androhen?
Soeben merke ich, dass die vorangegangenen Zeilen ein falsches Bild von dem abgeben, was in jenem Moment in mir vorging. Sie erwecken den Anschein, es hätten Überlegungen stattgefunden, Abwägungen. Wenn dem so war, brausten diese wie ein Wind durch meinen Kopf, während ich mich auf dem Weg zu Bilhildis ’ Kammer befand. Ich wusste nur: Ich bin nahe dran, sehr nahe, ich kann den Mord aufklären, die Gräfin retten, Elicia und mich in eine gute Zukunft führen, der Grafschaft den Grafen erhalten … Die Stumme, die Sterbende hatte es in der Hand.
Mit dieser Erwartung, dieser Furcht und diesem Hass stürmte ich in Bilhildis ’ Kammer. Die flackernde Öllampe auf dem Tisch sagte mir, dass Bilhildis von ihrer Unterredung mit Elicia zurückgekehrt war, doch ich erblickte sie nicht. Das karge Licht wurde als hundertfacher matter Schimmer von goldenen und silbernen Münzen, die über den Boden verstreut lagen, zurückgeworfen, einige beschriebene Seiten lagen dazwischen, und im Mauerwerk prangte ein kleines dunkles Loch – Zeugnisse dafür, dass Bilhildis den Diebstahl ihrer Gedanken inzwischen bemerkt hatte.
Durch ein Röcheln aufmerksam geworden, sah ich die Dienerin sich aus dem schmalen Fenster beugen. Sie erbrach sich. Offenbar hatte sie mich nicht hereinkommen hören. Ich las das Lumpenpapier auf und steckte es zu dem, das ich in meinem Gewand mit mir führte. Als ich mich Bilhildis näherte und dabei über den Ziegelstein stolperte, drehte sie sich zu mir um. Ihr Mund und Kinn waren voller Blut. Was mich nicht hätte überraschen dürfen, ließ mich dennoch einen Schritt zurückweichen.
Ich hielt ihre Schriften in die Höhe, als wollte ich triumphierend rufen: Ich weiß es. Du bist das Böse dieser Burg. Wie ein Fluch hast du dich über alles gelegt.
Sieben, acht Atemzüge lang standen wir uns einander gegenüber wie zwei stumme Geister, die sich zufällig in der Finsternis begegnet waren und nun nicht wussten, was sie tun sollten. Obwohl ich ihre Augen kaum sah – nur die schwache Spiegelung einer Flamme darin –, hatte ich das unangenehme Gefühl, sie könnten mir auf den Grund meiner Seele blicken und darin unsere Gemeinsamkeit entdecken.
Ich wartete. Ich wusste nicht, worauf. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte.
Dann – ich sah es kommen und hoffte es wohl auch – bückte sie sich, hob den Ziegelstein auf, holte aus und schlug auf mich ein. Im letzten Moment konnte ich ihren Schlag, der auf meinen Kopf zielte, verhindern. Der Ziegelstein fiel wieder zu Boden. Mit meinen beiden Armen drängte ich die keuchende alte Frau zurück, bis es nicht mehr weiterging, drängte sie in voller Absicht gegen die Wand. Ich würgte sie. Sie wehrte sich,
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