Die Suendenburg
wünsche ferner, dass er nicht unterrichtet wird.«
Mein Einfluss war nach sechsundzwanzig Jahren als Gräfin groß genug, um den Gehorsam zu brechen, den ein Wachmann seinem neuen Graf schuldete. Um den Einfluss noch zu erhöhen, zog ich mir einen Ring vom Finger, den ich dem armen Schlucker überreichte. Er nahm den Ring, ein Leuchten in den Augen, entgegen, als handele es sich um eine saftige Gänsekeule inmitten der Fastenzeit.
»Hast du noch andere Befehle vom Vikar erhalten?«
»Ich soll eine Wache vor der Tür der Herrin Elicia postieren. Und ich soll nach einem Mönch suchen lassen und ihn in Gewahrsam nehmen.«
»Die Wache vor der Tür meiner Tochter darfst du postieren. Der Mönch wird nicht gesucht und bleibt unbehelligt. Sag auch meinen Zofen, sie mögen mich heute Morgen allein lassen, ich wünsche niemanden zu sehen. Wo ist der Vikar?«
»Er untersucht unten im Wald den Leichnam der Dienerin.«
»Gut. Kein Wort zu ihm. Nun geh. Ach, eines noch. Lass die Ungarin frei. Gib ihr ein gutes Pferd, einen Laib Brot, Käse und diese Münzen hier. Dass du sie mir nicht für dich behältst.«
»Nein, Herrin.«
»Ich danke dir. Leb wohl.«
Ich nahm die Ziegenhaut vom Fenster ab. Mein Blick ging hinunter auf diesen köstlichen Fluss, den großen Lebensspender, dessen silbernes Band sich durch viele Lande zieht und an dessen Ufern sich Geschichten zuhauf abspielen, Geschichten wie meine, gute Geschichten, lustige, traurige und tragische. Man könnte wohl ein ganzes Jahrtausend lang erzählen, was sich an diesem Strom der Sagen und Legenden tagtäglich ereignet. Meine Legende ist nur eine davon, und vielleicht nicht einmal die beste. Aber es ist die Legende meines Lebens, die wert ist, niedergeschrieben zu werden.
Mein kleiner Vogel auf dem Fenstersockel hatte den Winter in seinem Gehäuse, das ich ihm hatte bauen lassen, überstanden. Am Vortag hatte ich ihn noch einmal gefüttert. Ob es seinem Flügel besser ging, kann ich nicht sagen. Es mag sein, dass der Vogel irgendwann am Morgen seine Flügel ausgebreitet hatte und sich auf dem Wind hinunter ins Tal hatte gleiten lassen. Es mag sein, dass er beim Versuch, dies zu tun, in den Abgrund stürzte.
An meinem Frisiertisch, an dem ich noch immer sitze, begann ich zu schreiben und schreibe noch immer. Im Spiegel fällt mein Blick von Zeit zu Zeit zur Tür, in der Erwartung, dass sie sich langsam und leise öffnen und die Kutte eines Mönchs zu erkennen sein wird. Ich fürchte das Kommende nicht. Es hat seine Richtigkeit. Nach meiner überraschenden Genesung vor einigen Wochen habe ich mich gefragt, wieso mir diese Gnade widerfahren ist. Jetzt verstehe ich es: Der Prozess stand noch aus. Er findet heute statt, trotz Bilhildis ’ Tod. Es liegt ein gewisser göttlicher Sarkasmus darin, dass das Urteil über Aistulf und mich nicht von dem weltlichen Gericht des Vikars, sondern gewissermaßen von einem geistlichen Gericht gesprochen wird, auch wenn der Richter die Kutte nur zur Tarnung trägt.
Wieso hat die Gewalt so viel Anziehungskraft und die Sanftmut so wenig? Gestern, am späten Abend, kam Aistulf zu mir und gestand unter Tränen, dass er in der Nacht zuvor Baldur getötet hatte. Natürlich fragte ich ihn nicht nach Agapets Ermordung – wozu?
Meine Enttäuschung war unermesslich. In Aistulf hatte ich alle unsere Hoffnungen gelegt, er sollte für uns beide ein guter Mensch sein, nicht frei von Sünde zwar, aber unbefleckt vom Blute sowohl der Ermordeten wie auch der im Krieg Hingeschlachteten, unverdächtig sowohl der lügnerischen Bemäntelung von Gewalt, wie auch angewidert von der stolzen Zurschaustellung. In meiner Vorstellung war Aistulf stets die Verkörperung eines Aufbruchs gewesen, eines mutigen neuen Denkens, und ich hatte diejenige sein wollen, die ihm die erste Brücke schlägt, was ich auch getan habe. Ich habe viel mehr von ihm erwartet, als ich je von Elicia und Orendel erwartet habe, die bloß meine Kinder zu sein hatten. Aistulf war – und ist – mein Geliebter, mein wahrer Gemahl, mein Glück, und er war meine Zuversicht. Ich hatte mich an seine Idee von einer besseren Welt geklammert, wie dieser kleine Vogel da draußen sich an den schmalen Sockel klammerte. Als Aistulf Baldur tötete, ist er Teil geworden einer Welt, die stets den Frieden zu schaffen gedenkt, indem sie den gewalttätigen Feind blutig niedermetzelt.
Ich liebe ihn noch immer, ich kann gar nicht anders. Aber wir haben uns verirrt. Das Gute und Richtige liegt irgendwo
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