Die Suendenburg
»Was ist mit dir, Elicia?«
»Ich weiß nicht … Es ist … Mit war plötzlich schwarz vor Augen, und ich hatte ein beklemmendes Gefühl.«
»Das hat mit dem engen Gang und diesem merkwürdigen Raum zu tun. Er ist irgendwie bedrückend, wie eine Gruft, nicht wahr? Komm, ich helfe dir wieder auf die Beine. Geht es dir jetzt besser?«
»Ja, ein wenig besser. Ich will mich aber auf das Lager setzen.«
Eine kleine Weile saßen wir einfach nur, ohne zu reden, nebeneinander. Ich hielt ihre Hände.
»Möchtest du, dass ich dich hier herausbringe?«
»Nein, ich möchte, dass du endlich an die Arbeit gehst und nicht bei mir hockst wie ein junges, betrübtes Hündchen. Ich komme sehr gut zurecht.«
Ich lächelte. »Wenn du so redest, merke ich, dass du von einer derben Amme aufgezogen wurdest und nicht von deiner feinsinnigen Mutter.«
»Oh, sprich bitte nicht von meiner Mutter, das kann ich im Augenblick gar nicht vertragen.«
Ich ließ Elicia also in Ruhe und begab mich zurück an den Tisch, wo ich die Briefe zur Hand nahm und sie zu lesen begann, einen nach dem anderen. Es waren ihrer sieben. Als ich die Lektüre des letzten Briefes abgeschlossen hatte, fragte ich Elicia, woher sie von dem Geheimgemach wusste. Ich las weiter, während sie antwortete.
»Im Grunde kann man nicht sagen, dass ich hiervon wusste«, antwortete sie nachdenklich. »Die Erinnerung an diesen Raum drängte sich mir geradezu auf, und zuerst begriff ich nicht, dass es eine Erinnerung war. Aber dann kam Bild auf Bild hinzu, und schließlich … Alles sehr undeutlich, aber immerhin. Ich war noch ein kleines Mädchen, ungefähr vier oder fünf Jahre alt, da versteckte ich mich in Vaters Kemenate. Er kam herein und ging schnurstracks in den Vorraum des Bades, also schlich ich hinter ihm her und sah, dass er in die Truhe stieg. Es muss wohl ein beeindruckendes Erlebnis gewesen sein für das Mädchen, das ich damals war, als der Vater in eine kleine Truhe stieg und nicht mehr herauskam, und vor allem, dass er, als das Mädchen in die Truhe hineinsah, sich nicht dort befand. Ich muss wohl herausbekommen haben, dass der Boden sich nach unten aufklappen ließ. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich Vater in diesem Raum überraschte. Er lachte, nahm mich in die Arme und nannte mich sein freches, neugieriges Mädchen. Ich weiß noch, dass ich auf seinem Schoß saß, wo er mich kitzelte, und dass ich auf dem Lager aus weichen Fellen herumtobte. Ich meine auch, dass er mir, bevor wir gingen, das Versprechen abnahm, mit niemandem über das Geheimversteck zu sprechen. Ich hatte das alles völlig vergessen, bis zu diesen seltsamen Erinnerungen im Halbschlaf. Es ist ein großer Zufall, dass mir das alles jetzt, wo es dir von Nutzen sein kann, wieder einfällt.«
Ich widersprach ihr nicht, obwohl ich ihr das Wort vom Zufall nicht abnahm. Nicht, dass Elicia log, nein, das in keinem Fall. Doch ist es zufällig, dass Elicia sich an das Geheimgemach erinnert, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als es für meine Ermittlungen wichtig wird? Und vor allem: Ist es zufällig, dass diese neue Entdeckung allem Anschein nach die Gräfin und ihren neuen Gemahl Aistulf auf das Schwerste belastet? Denn die Existenz dieses Gemachs ist die Antwort auf die wohl wichtigste Frage: Wie hätte irgendjemand anderer als die Ungarin den Mord begehen sollen, da doch der Diener Raimund bezeugte, dass sich weder im gräflichen Gemach noch im Vorraum, im Bad oder im Kesselraum eine Person aufgehalten hat? Das wäre schlechterdings unmöglich gewesen, es sei denn, man hätte Raimund der Tat verdächtigt, wofür es jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt gab. Die Entdeckung des Geheimgemachs jedoch stellte alle bisherigen Überlegungen auf den Kopf.
»Für mich ergibt sich folgendes Bild«, sagte Elicia. »Der Mörder verbarg sich einige Zeit vor dem Eintreffen meines Vaters und Raimunds in diesem Geheimgemach oder im engen Gang. Du hast mir erzählt, dass Raimund, nachdem er meinen Vater ausgekleidet und ins Bad geleitet hatte, die Tür zwischen Vorraum und Bad hinter sich schloss. Die Ungarin war noch nicht gebracht worden. Als der Mörder hörte, dass es im Bad still geworden war, erkannte er den richtigen Moment. Er stieg die Leiter hoch, kroch aus der Truhe in den Vorraum, ging ins Bad, überraschte meinen Vater, tötete ihn und verschwand wieder durch die Truhe ins Geheimgemach, wo er blieb, bis er meine Schreie hörte. Vermutlich hat er zu der Zeit bereits sein
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