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Die Suendenburg

Die Suendenburg

Titel: Die Suendenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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nicht taub oder schwachsinnig war. Und schließlich könnte der beschuldigte Aistulf argumentieren, dass auch Elicia vom Geheimgemach wusste, immerhin hatte sie es mir gezeigt. Es galt, gerecht zu sein, und ich musste einräumen, dass nahezu jeder in der Burg von dem Geheimgemach gewusst haben könnte, zumal sich die Frage stellte, weshalb Graf Agapet es überhaupt aufsuchte. Welchem Zweck diente es? Gewiss nicht nur der Aufbewahrung der Briefe.
    »Sicherlich«, antwortete sie traurig, von mir auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. »Es hätte sich auch ein anderer hier drin verbergen können. Aber keiner hatte einen so guten Beweggrund wie Aistulf. Er wollte zum Graf aufsteigen, und das hat er erreicht. Gewiss, meine Mutter hätte auch … Aber ich will ihr noch immer und trotz allem zugutehalten, dass sie blind gegenüber Aistulfs wahrem Charakter ist und nicht ahnt, was er getan hat. Und falls sie es ahnt, will sie nichts davon wissen. Und falls sie doch an der Tat beteiligt war, dann nur als stillschweigende Gönnerin, nicht als Täterin. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Aistulf der Mörder ist.«
    Aus genau diesem Grund war ich nicht der Ansicht, dass Elicias Erinnerung an die Begebenheit in der Kindheit zufällig war. Sie wollte Aistulf als Täter sehen, und ich konnte ihr das nicht verübeln. Sie hatte sehr an ihrem Vater gehangen, und ihr Stiefvater hatte nicht nur den Platz an der Seite ihrer Mutter eingenommen, sondern auch den Platz als Herr über Burg und Land. Elicia hatte ihr Ziel teilweise erreicht. Indem sie das Geheimgemach wiederentdeckt hatte – geschürft aus den Tiefen des Vergessenen –, galt die Ungarin nicht mehr als die einzig mögliche Täterin, und der Schatten des Verdachts fiel nun auch auf Aistulf und die Gräfin.
    Ich fand es bemerkenswert, und ich finde es immer noch bemerkenswert, während ich diese Zeilen schreibe, welch enorme verborgene Kraft in unserem Innern wohl walten muss, dass sie uns, ohne dass wir es bemerken, mit genau den Argumenten und Mitteln versorgt, die unser Denken und Tun bestätigen. Elicia wünscht sich nichts mehr, als Aistulf und ihre Mutter bestraft zu sehen, und etwas in ihr – eine geheimnisvolle Kraft – leitet sie weiter auf diesem Weg. Ich kann nur beten, dass sie damit nicht in die Irre und auf einen Abgrund zugeht.
    Und ich mit ihr. Denn was tue ich, seit ich Elicia kenne, seit ich bei Elicia liege, seit ich mein Leben auf den Kopf stelle? Eben nur dies: mit Elicia zusammen zu sein und mein bisheriges Leben auf den Kopf und infrage zu stellen. Wenn ich bei Elicia bin, gibt es keine Moral mehr, und wenn ich nicht bei ihr bin, denke ich an uns, an unsere Geschichte, unsere Gespräche, an unsere Körper, an das, was zwischen uns stattfindet, an mein Eindringen in sie, an ihren Blick, wenn ich es tue, an die Tausende Male, an denen ich diesen Blick noch sehen möchte; ich denke an die Freude an der Wollust, die Freude am Verbotenen, an die Schönheit der Sünde, an alles, was ich kürzlich noch – im wahrsten Sinne des Wortes – verurteilt habe. Wie viele Buhlen habe ich schuldig gesprochen, und nun bin ich selbst einer. Ich riskiere viel, sehr viel, vielleicht alles. Und das Schlimme ist, dass es mich die meiste Zeit nicht kümmert. Ich habe meine Untersuchungen vernachlässigt. Meinem Schreiber kann ich ansehen, dass er sich fragt, was ich hier überhaupt noch tue. Auch Aistulf und die Gräfin werfen mir zweifelnde Blicke zu, so als wäre ich überfordert von der Aufgabe, die mein Amt mit sich bringt. Nur mein Rang schützt mich davor, mich rechtfertigen zu müssen. Ich habe nicht mehr entschlossen ermittelt, weil ich an nichts anderes denken konnte als an das, was mein ruhiges, gleichmäßiges, ein wenig trauriges und leidendes Dasein getroffen hat, mit der Plötzlichkeit, mit der ein Sterbender noch einmal tief durchatmet, bevor sein Atem versiegt.
    Ich höre mich furchtbar fatal an. Am liebsten würde ich das Geschriebene verbrennen, doch es ist Beleg meiner derzeitigen Verfassung und insofern so etwas wie ein Zeuge. Überhaupt kann man alles, was ich bisher auf dieser Burg geschrieben habe, das Protokoll eines Prozesses nennen, und ich verwende das Wort Prozess hier absichtlich in seiner doppelten Bedeutung – und lasse offen, von wem und gegen wen dieser Prozess betrieben wird.
    Die Entdeckung des Geheimgemachs brachte neue Bewegung in meine Inquisitio, und dass es Elicia gewesen war, die mir diese Bewegung verschaffte, machte

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