Die Suendenburg
Versteck verlassen, denn während ich alle Aufmerksamkeit auf mich zog, konnte er entwischen, seine nasse Kleidung wechseln und so weiter und so weiter.«
»Von deinem Eintreffen im Bad konnte er nichts wissen.«
»Jeder, der meinen Vater tot aufgefunden hätte, wäre als Allererstes in den Hof gerannt, um Alarm zu schlagen. An diesem Abend standen nirgendwo Wachen, die ganze Burg feierte. Er hätte jede Gelegenheit gehabt, zu entwischen.«
»Und wie hätte der besagte Mörder wissen können, dass dein Vater ein Bad nehmen würde?«
»Er hat gehört, wie mein Vater anordnete, das Bad vorzubereiten.«
»Und falls dein Vater kein Bad hätte nehmen wollen?«
»Auf das Bad kommt es nicht an, Malvin. Der Mörder hätte sein Versteck auch nutzen können, um meinen Vater im Schlaf zu ermorden. Seine größte Schwierigkeit bestand nicht darin, den Ort des Verbrechens unentdeckt zu verlassen, sondern sich unentdeckt am Ort des Verbrechens zu verbergen, bis Raimund meinen Vater allein gelassen hatte. Dafür war das Geheimgemach ideal.«
Elicias Überlegungen stimmten mit meinen überein. Sie hatte den Tathergang genauso beschrieben, wie ich es auch getan hätte.
»Du würdest eine gute Vikarin abgeben«, sagte ich.
»Ach, hör schon auf.« Sie winkte mit halber Bescheidenheit und halbem Stolz ab. »Vikarin – da lachen ja die Hühner. Ich habe nur das Offensichtliche erkannt.«
»Jetzt bliebe nur noch die Frage zu klären, wer der Mörder ist.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Aistulf natürlich. Wer denn sonst?«
Ich schmunzelte. Diese Antwort hatte ich erwartet.
»Dazu müsste er zunächst einmal von diesem Geheimgemach gewusst haben.«
»Er war der Verweser der Burg. Irgendwo gibt es gewiss einen Grundriss, in dem …«
»… das Geheimgemach mit ziemlicher Sicherheit nicht eingezeichnet ist, Elicia. Da hätte dein Vater auch gleich Wegweiser in das Mauerwerk markieren können. Es ist das Wesen eines Geheimnisses, dass man es nicht für jedermann kenntlich macht. Sonst hieße es Bekanntmachung.«
Sie streckte mir die Zunge heraus, und wir lachten. »Zugestanden«, sagte sie. »Doch Aistulf ist, wie du weißt, an Historie interessiert. Hat er dir am Tag deiner Ankunft bei unserem verunglückten Abendbrot nicht erzählt, dass sich der letzte Merowinger auf dieser Burg mehrere Jahre verborgen hielt und dass die Karolinger ihn nicht fanden, obwohl sie in der Burg mehrmals nach ihm suchten? Das könnte alles auf das Geheimgemach passen.«
»Ins Schwarze getroffen.« Ich nickte bewundernd, und dieses Mal übertraf meine Hochachtung für Elicias Vermutung bezüglich des Mörders meine vorherige Hochachtung bezüglich des Tathergangs, da Elicia hierbei einen Zusammenhang erkannt hatte, der mir verborgen geblieben war. Ein auf Geschichte erpichter Mann wie Aistulf könnte sich mit dem Versteck des letzten Merowingers beschäftigt und es auf eine Weise, die noch zu ergründen wäre, tatsächlich gefunden haben, vielleicht Jahre, vielleicht auch erst wenige Wochen vor dem Mord.
Und doch irrte Elicia an einer Stelle entscheidend, und zwar darin, dass, unterstellt, Aistulf hätte vom Geheimgemach gewusst, sich dadurch ganz von selbst seine Täterschaft ergab. Das war keineswegs der Fall. Erstens: Ich hatte inzwischen herumgefragt und erfahren, dass Aistulf keinem Fest lange beiwohnte. Er war zwar nicht gerade ein Griesgram, aber er hielt Maß in allen Dingen, offensichtlich auch in Sachen Fröhlichkeit, und auf ausgelassenen Festen fühlte er sich unwohl. Dass er sich am Abend des Mordes früh zurückzog, war demnach glaubwürdig. Zweitens: Nicht nur Aistulf hatte das Fest vorzeitig verlassen. Meine Befragungen hatten ergeben, dass sich die Gräfin angeblich allein in ihren Gemächern befunden hatte, Baldur angeblich mehrmals auf dem Abort gewesen war, und schließlich – ich muss es erwähnen – war auch Elicia zum vermuteten Zeitpunkt des Mordes allein und ohne Zeugen. Drittens: Es hätten noch andere vom Geheimgemach erfahren können. Die Gräfin? Sie lebte seit vielen Jahren auf der Burg. Baldur? Er war Hauptmann der Wache, es gehörte zu seinen Aufgaben, die Burg besser zu kennen als irgendjemand sonst. Raimund? Er war der Leibdiener des Grafen und wusste gewiss um so manches Geheimnis. Wenngleich ihn das der Tat nicht verdächtiger machte, weil er in jedem Fall eine Gelegenheit gehabt hätte, so hätte er seine Kenntnis vom Geheimgemach jedermann verraten können, beispielsweise seiner Frau, die zwar stumm, aber
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