Die Suendenburg
Solltest du nicht die paar Dinge, von denen du früher geträumt hast, in die Tat umsetzen: im Frühling auf einem Floß den Rhein hinunterfahren oder noch einmal das Dorf deiner Kindheit besuchen oder die Gräber deiner Söhne ausfindig machen und bei ihnen bleiben, bis es so weit ist? Ich möchte dann Ja zu mir sagen. Es ist zum Kotzen, aber etwas in mir möchte Rheinwellen, Frühlingsduft, Kindheitserinnerungen, möchte Trauer, Gefühlsseligkeit und endlich Frieden, möchte leben wie die Figuren in Orendels Geschichten. Es ist ein sehr sanftes Stimmchen, das mich manchmal vor dem Einschlafen einzulullen versteht.
Spätestens am nächsten Morgen jedoch lautet die barsche Antwort: Nein. Nein, es ist keine Zeitverschwendung, was ich tue. Jede Stunde ist es wert, dafür geopfert zu werden. All die Jahre, diese vielen, vielen Jahre müssen für etwas gut gewesen sein, wenn auch nur dafür, einen einzigen Sieg zu erringen. Und wenn ich daran denke, dann stopfe ich dem zarten Stimmchen das Maul.
Doch die Schwierigkeiten nehmen zu. Vor einer Woche sagte die Gräfin zu mir: »Bilhildis, ich möchte Orendel besuchen. Ich sehe ein, dass es zu gewagt wäre, ihn auf die Burg zu holen, solange der Vikar noch hier weilt. Aber er erweckt nicht den Eindruck, als wolle er in naher Zukunft seine Mission beenden, und ich kann nicht länger warten. Ich erfinde eine Ausrede, ich sage, dass ich ein Kloster besuchen will, und stattdessen fahren wir zu dem Gehöft, in dem du Orendel untergebracht hast. Der Vikar wird keinen Verdacht schöpfen. Bereite alles vor, Bilhildis. Wir brechen morgen auf.«
Was also tun? Raimund, der dabei war, sagte später zu mir: »Jetzt ist es so weit, wir können nicht mehr anders, ich ertränke ihn im Rhein, sodass es aussieht, als wäre er beim Schwimmen abgesoffen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was? Mit dem werde ich leicht fertig, diesem Barden. Bilhildis, sei keine Närrin, das sieht dir nicht ähnlich. Entweder der Kopf Orendels oder unser Kopf. So sieht ’ s aus, und das weißt du.«
Ja, ich wusste es. Ja, ja, ja. Verdammt. Aber mein Plan, mein schöner Plan. Orendel zu ersäufen, was für eine Verschwendung, was für eine Demütigung nach den Jahren der Mühe. Und den Plan sogleich umzusetzen war auch nicht möglich. Orendel war noch nicht fertig abgerichtet. Er war zwar gegen seine Mutter eingenommen, aber er war noch nicht da, wo ich ihn haben wollte.
Also nein. Nein, nein. Nicht ersäufen.
»Bilhildis. Ich tu ’ s, ob es dir gefällt oder nicht.«
Wehe, du alter Sack, du triefäugiger Lazarus.
»Was schlägst du stattdessen vor?«
Gift.
»Du willst den Jungen vergiften? Auch gut.«
Nicht den Jungen, die Gräfin, und nicht tödlich vergiften, sondern gerade so viel, dass sie bettlägerig wird.
Genau so habe ich es gemacht. Ich mischte ihr einige klein gehackte Blätter der Sumpfdotterblume in den Wirsing, das schmeckt man nicht heraus. In der Nacht klagte sie über Übelkeit, am Morgen kotzte sie, mittags kam die Scheißerei dazu, und da ich noch ein bisschen nachlegte, bekam sie starke Kopfschmerzen. Aistulf machte sich große Sorgen. Er vermutete sogleich eine Vergiftung, aber ich widersprach ihm: Das ist die Aufregung, schrieb ich ihm. Die Gräfin hat sich selbst krank gemacht mit ihrer erregten Sehnsucht nach Orendel.
Um ihn zu beruhigen, versprach ich ihm, fortan jede Speise, die man der Gräfin bringt, vorzukosten. Er sagte: »Meine Frau kann froh sein, dass sie dich hat, Bilhildis.«
Sechs Tage lang war die Gräfin krank. Ich pflegte sie wie eine Mutter, wischte ihre Rotze ab, wischte ihren Schweiß ab, wischte ihre Kotze ab, wischte ihre Scheiße ab. Nur ein Mal am Tag stand sie auf, nach Einbruch der Dunkelheit, um die Fackel zu schwenken. Ich musste sie stützen, »die Ärmste« war völlig ausgelaugt.
Doch ihr Zustand besserte sich, was zu erwarten gewesen war. Sie begann bereits wieder davon zu sprechen, Orendel bald aufzusuchen, auch das war vorherzusehen. Daher flößte ich der Gräfin schon vor Tagen Tollkirsche ein, versteckt in einer Gemüsebrühe. Das Gute bei der Tollkirsche ist, dass sie kaum auf die Organe wirkt, sondern fast ausschließlich auf den Geist, und wenn bei Leuten etwas mit dem Geist nicht stimmt, denkt niemand an eine Vergiftung. Die Gräfin wird von Unruhe und Weinkrämpfen heimgesucht werden, das sind Anzeichen einer weiblichen Überreizung. Leider benötigt die Tollkirsche eine Weile und mehrere Verabreichungen, um ihre Wirkung zu
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