Die Suendenburg
von überall her eine Amme kommen lassen, wenn ihr keine auf dieser Burg gefällt.
Ich lehnte kopfschüttelnd ab. Aus meiner besonderen Sicht war Elicias Vorschlag noch viel elender, als er ohnehin schon war: Der Vater des Kindes, dessen Amme ich werden sollte, hatte mich beschmutzt und entehrt, und nun umwarb er mich. Und ich sollte ein Kind aufziehen, während meine eigenen Kinder ohne ihre Mutter und im Glauben aufwuchsen, ich sei tot.
»Zier dich nicht. Es ist doch das Natürlichste von der Welt.«
Ich hätte meine Wut herausschreien sollen. Mein Schicksal war ohnehin besiegelt. Aber ich konnte es nicht. Ich öffnete die Lippen und hörte mich sagen: »Ja, ich will die Amme deines Kindes werden.«
Was veranlasste mich dazu? Eine Laune? Der Wille der Götter? Oder etwas Böses, Dunkles?
Bilhildis
Das Gewächs wird hart, wird ein Grabstein in meinem Körper. Heute Morgen sah Raimund mich an und sagte: Was ist denn das da in deinem Mundwinkel? Ich wischte mit der Hand über die Lippen, und danach war sie nass, klebrig und rot. Ich gab ihm zu verstehen: kein Wort, zu niemandem. Danach weinte er. Man sollte meinen, dass er froh wäre, dass es mit mir zu Ende geht, ja, sogar dass er Gott gebeten hätte, mir ein Gewächs in den Bauch zu setzen, denn so wie ich mit ihm und mit Gott umspringe … Aber nein, was tut er, der alte Sack, er heult. Ich habe ihn noch nie heulen sehen, auch nicht beim Tod unserer Söhne. Mir bleibt aber auch gar nichts erspart.
Was ich in den letzten Tagen gelernt habe, ist, dass Ränkespiele viel Arbeit bedeuten, wenn man es richtig machen will. Die Gräfin schreibt nun fast täglich einen Brief an Orendel, den ich zwar wie üblich nicht aushändige, für den ich jedoch einen Antwortbrief verfassen muss, weil die Gräfin selbstverständlich erwartet, einen zu bekommen. Ich sitze also fast jeden Abend nach meiner Arbeit eine Stunde auf meinem Hintern, todmüde, und schreibe schwülstigen Kram, von dem ich meine, dass er sich nach Orendel anhört und der Gräfin gefällt. Und das tut er. Keine Übertreibung ist derzeit so groß, dass sie sie bemerken würde. Sie hat nur ihr Glück im Sinn – die Liebe zu dem Kind in ihrem Bauch, die Liebe zu Orendel, die Liebe zu Aistulf, Liebe, Liebe, Liebe. Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur zusehe. Es ist, als schlucke die Gräfin morgens, mittags und abends eine Arznei für größeres Glück, so wie andere Leute eine Arznei für besseren Stuhlgang schlucken. Wenn sie nicht gerade mit dem ungeborenen Kind spricht, küsst und umarmt sie Aistulf, schreibt Briefe, schwenkt die Fackel oder – das ist das Schlimmste – stellt mir Fragen über Fragen über Orendel: Bilhildis, wie spricht er von mir? Schreib ’ s mir auf. Bilhildis, wie verkraftet er, dass sein Vater tot ist? Schreib ’ s mir auf. Bilhildis, welche Fragen stellt er? Bilhildis, wie erträgt er, dass ich so schnell wieder geheiratet habe? Bilhildis, hegt er irgendeinen Groll? Bilhildis, wie hat ihm der Mantel gefallen, den ich ihm durch dich geschickt habe? Bilhildis, welchen Wunsch möchte er als Nächstes erfüllt haben? Bilhildis … Bilhildis … Bilhildis. Schreib ’ s mir auf, Bilhildis.
Und Bilhildis muss auf alles eine Antwort haben, denn schließlich darf die Gräfin nicht merken, dass Orendel mit jedem Tag ein wenig mehr gegen sie eingenommen ist. Jetzt noch nicht. Also muss ich mir etwas ausdenken, und weil das nicht immer auf die Schnelle möglich ist, muss ich auf jede denkbare Frage vorbereitet sein. Das ist unglaublich anstrengend. Ich erfinde so viele Geschichten – inzwischen mehr als Orendel –, dass ich aufpassen muss, sie alle richtig im Kopf zu behalten, denn die Gräfin hebt sich meine Antworten auf und liest sie sich immer wieder durch, und manchmal, nach ein paar Tagen, stellt sie mir die Frage ein weiteres Mal. Ich glaube nicht, dass sie misstrauisch ist. Sie ist einfach verunsichert, was ihren Sohn angeht, und kann nicht oft genug beteuert bekommen, dass sie alles richtig macht.
Ist das lästig! In seltenen Momenten, wenn es mir über den Kopf zu wachsen droht oder ich trotz meiner Müdigkeit den Antwortbrief Orendels verfassen muss, frage ich mich: Ist das nicht Zeitverschwendung? Solltest du nicht die Brocken hinwerfen und mit deinen letzten Monaten noch etwas anderes anfangen? Solltest du nicht lieber zur Gräfin gehen, ihr mitteilen, was mit dir los ist, und sie bitten, dich für den schmalen Rest deines Lebens von Arbeit und Leibeigenschaft zu befreien?
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