Die Suendenburg
große und wohlhabende Teile seiner Grafschaft verlieren würde, jene Teile, die Claire als Morgengabe eingebracht hatte. So blieb ich also – auch in meiner kleinen Burg – die Gefangene meiner Herrin, wie auch die Worte, die ich zu sagen gehabt hätte, Gefangene meines Kopfes und Herzens blieben. Unzählige Male war ich drauf und dran, sie zu befreien und der Gräfin ins Gesicht zu schleudern, damit sie und alle Welt erkannte, wer ich wirklich war: die Frau an Agapets Seite. Zuweilen glaubte ich, an den zurückgehaltenen Worten in mir zu ersticken, so viele wurden es. Ich hätte schreien mögen. Aus Liebe zu Agapet habe ich weiterhin geschwiegen, und wenn ich hundert Erstickungstode hätte sterben müssen, so hätte ich ihm nie absichtlich Kummer bereitet. Seine Leute hatten mir zwar einst die Fähigkeit zu sprechen genommen, aber er hat mir die Fähigkeit, durch mein Herz zu ihm zu sprechen, gegeben. Zweiundzwanzig Jahre lang.
Ich wurde Mutter. Vor einundzwanzig Jahren wurde Gerald geboren, vor neunzehn Jahren Gerbert und Garet vor achtzehn Jahren. Agapets Söhne, nicht Raimunds. Raimund wusste das, er bekam vom wahren Vater drei Mal drei Goldstücke, nähte sie in den Saum eines Mantels ein, erkannte die drei Jungen als die seinen an und war zufrieden. Die Gräfin hingegen hat nie etwas gemerkt. Ein Mal, ein einziges Mal nur, möchte ich die Welt aus dem Blickwinkel ihres Wolkenkuckucksheims betrachten. Aber das werde ich nicht erleben. Gutgläubigkeit ist etwas, das man in seiner Jugend erwirbt – oder nie. Für Claire war das Leben immer leicht, selbst wenn es schwierig war. Ich soll irgendeinen Mann heiraten? Nun gut, aber am Altar entscheide ich mich dagegen, was kann schon passieren. Meine vertraute Dienerin hat ihre Zunge zerstückelt bekommen? So was Ärgerliches. Mein Sohn soll ein Schwert in die Hand nehmen? Da lasse ich ihn doch lieber entführen. Meine Tochter will nichts von mir wissen? Gott hat ’ s gefügt, er wird schon wissen, was er tut. Ich kann meinen Gemahl nicht leiden? So ist das Leben. Mein Gemahl wurde ermordet? Kann passieren. Hokuspokus, drei Mal schwarzer Kater, hier ist schon der nächste.
Ich will damit nicht sagen, dass sie sich nie um andere sorgte, aber sie war sehr eigen darin, wem sie die Gunst ihrer Sorge schenkte und wem nicht. Hilfeschreie hat sie geflissentlich überhört, wenn es ihr nicht passte, und die meiste Zeit hat sie sich nur mit sich selbst beschäftigt. Als ich meine Zunge verlor, hielt sie mir eine Weile lang, bildlich gesprochen, das Händchen. Auf die Idee, meine Leibeigenschaft aufzuheben, ist sie nicht gekommen. Sie hat mein Leben an das ihre gekettet, wobei sie die Richtung vorgab und den Schlüssel behielt. Ihren Sohn bewahrte sie vor dem Krieg, während meine drei Söhne von ihm verhackstückt wurden. An die tausend Mal habe ich sie verflucht. Claire, die mein Schicksal ist und bleiben wird – bis zur letzten Stunde, in der ich das ihre werde.
Ich habe ein Mal im Leben geliebt, nur einen einzigen Mann, Agapet, also hatte ich nur eine Wahl. Was ist das für ein Leben, wenn man nur eine Wahl hat. Als Leibeigene habe ich nur die Wahl, zu gehorchen, wem ich gehöre, und als Liebende nur die Wahl, zu lieben, wer da kommt. Der Gräfin zu dienen und den Graf zu lieben, das war kein Leben. Das war Mühe. Wer hat je danach gefragt?
Der Vikar hat viel herausbekommen. Wie hat er bloß das Geheimgemach gefunden? Wer außer Agapet und mir wusste davon? Nur Elicia, soviel ich weiß. Sie war damals vier Jahre alt, als sie ihren Vater heimlich dabei beobachtet hatte, wie er ins Geheimgemach ging. Agapet hat sich furchtbar darüber aufgeregt und Elicia den Hintern versohlt. Ich dachte, sie hätte das alles vergessen.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als dem Vikar einiges zu gestehen. Ich sagte ihm über Agapet und mich, dass wir einige Jahre lang beieinandergelegen haben, früher, als ich noch jung war, und dass ich, seit ich eine Dörrpflaume bin, nur noch seine Vertraute war. Davon, dass wir bis zum Schluss ein Paar waren und noch in der Nacht vor seinem Aufbruch zum Feldzug beieinanderlagen, ahnt der Vikar nach wie vor nichts. Gedanken kann auch er nicht lesen, und was das Schreiben angeht, so tue ich das nur noch nachts, und am Tage verstaue ich das Papier hinter einem Ziegel in der Wand, dort, wo Raimund sein Gold aufbewahrt.
Wenigstens kann ich mich auf seine Verschwiegenheit verlassen, da das Vögelchen Elicia mich in ihr großes Geheimnis eingeweiht
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