Die Suendenburg
sich nun einmal besser.
An jenem Weihnachtstag ging die Gräfin nach dem Gelage früh zu Bett. Nachdem ich meine Arbeit getan hatte, ermunterte sie mich, auf das Fest zurückzukehren, um meinem Mann Raimund noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. Der Graf blieb wie üblich bis tief in die Nacht. Er gab sich leutselig, als er mit uns einfachen Dienern sprach – was blieb ihm übrig, zum Schluss saßen nur noch Raimund und ich bei ihm, die anderen hatten in Anbetracht der Mengen an Bier und Wein, die der Graf vertrug, ihre Fahnen gestrichen; sie waren in ihre Kammern gegangen, einige waren an Ort und Stelle eingenickt, ihre Köpfe ruhten reglos auf dem Tisch. Ein großes Schnarchen lag in der Luft. Blicke gingen hin und her: zwischen dem Grafen und mir, Raimund und mir, dem Grafen und Raimund. Schließlich verabschiedete Raimund sich, nachdem Agapet ihm dazu die Erlaubnis gegeben hatte.
Von jenem Abend – und nur von jenem Abend – darf man sagen, dass Agapet und ich »beieinandergelegen« haben. Alles, was danach kam, war weitaus mehr. Schon als er mich wenige Tage später ein zweites Mal zu sich kommen ließ, begann das einzusetzen, was ich vorhin »Musik« nannte. Agapet berührte mich auf eine Weise, der jede niedrige Gier fehlte. Bei mir fand er die Wärme, die seine Gräfin ihm nicht zu geben vermochte, und ich fand bei ihm die Leidenschaft, nach der ich mich allzu lange verzehrt hatte und zu der Raimund nicht imstande war. Es war Liebe. In jeder Hinsicht. Es hört sich wie Minnesang an, und ich glaube selbst nicht, dass mir solch hochtrabender Kram aus der Feder fließt, aber unsere Sprache war tatsächlich und im wahrsten Sinn die Liebe. Eine andere Verständigung als über die Liebe gab es zwischen uns nicht, war nicht möglich. Ich konnte nicht sprechen, ich konnte schreiben, doch er konnte nicht lesen. Wenn er etwas sagte, nickte oder verneinte ich, das war alles. Es war mir nur gegeben, das, was er sagte, irgendwie zu ergänzen. Aber in der Liebe brauchten wir keine Worte. Es waren kleine Gesten, Fingerzeige, Blicke, Lächeln, das Neigen des Kopfes zur Seite, Zuhören, Betrachten, Küsse, ein Räkeln, Zähne zeigen, Weinen, an einem Finger lutschen, eine Schulter streicheln, mit den Händen durch meine knisternden Haare fahren, die Muskeln anspannen, die Brüste darbieten, seine Narben zählen, die Geschichten dazu kennen und vieles, vieles mehr. Das waren die Bewegungen, die die Musik erzeugten. Das waren, verdammt noch mal, wir. Zweiundzwanzig Jahre lang.
Schon bald verlegten wir unsere gemeinsamen Nächte von seinem Gemach in das Geheimgemach. Nicht, weil wir gefürchtet hätten, dass uns die Gräfin ertappen könnte – sie kam nie von sich aus zu ihm. Und nicht, weil Raimund am nächsten Tag im Bett seines Herrn vielleicht eine Spur meiner nächtlichen Anwesenheit entdecken könnte – er wusste über uns Bescheid, es machte ihm nichts aus, er war nie eifersüchtig, das lag ihm nicht im Blut. Und außerdem schätzte er es, dass Agapet ihm hier und da ein paar Münzen wegen seiner Duldsamkeit zusteckte. Nein, Agapet zeigte mir das Geheimgemach, und ich richtete es sogleich ein, weil wir einen Ort haben wollten, der nur uns gehörte. Keiner sonst gelangte an diesen Ort, keiner wusste von ihm, außer Raimund, der ihn jedoch nie betrat. Für mich war das Geheimgemach eine Burg in der Burg, meine Burg, die ich mit meinem Mann, Agapet, teilte. Das Gemach war meine Fantasie. Dafür liebte ich es. Zweiundzwanzig Jahre lang.
Zugleich hasste ich es. Es war wie die Essenz meines Lebens: klein, niedrig, stickig, karg, abgelegen, geheim. Zwar war ich darin Agapets Gefährtin, ja, doch bloß eine Gefährtin der Nacht, des Dunklen, Verborgenen. Ich war frei, doch nicht befreit. Ich war die Dritte, die Unbekannte, ein Schattenwesen ohne Öffentlichkeit – was so viel bedeutet wie: ohne Wort. Wieder einmal war ich dazu verdammt, zu schweigen. Stumm als Mensch, stumm als Frau, stumm als Liebende. Männer hatten mir die Zunge herausgeschnitten und mich damit gestopft. Agapet verbot mir den Mund, als er mich mahnte, nie davon zu erzählen, was uns verband. Und beide Male war es Claire, die mein Schweigen verschuldet hatte: das erste Mal, als sie sich am Altar weigerte, den für sie vorgesehenen Mann – Agapet – zu heiraten, was in jenem Überfall endete, dem ich zum Opfer fiel; und das zweite Mal, als ein offen eingestandener Ehebruch und die damit einhergehende Auflösung der Ehe bedeutet hätte, dass Agapet
Weitere Kostenlose Bücher