Die Sündenheilerin (German Edition)
und ließ die Blicke ziellos durch den Raum schweifen. Seine Augen wirkten müde. »Mein Vater war seither nicht mehr derselbe. Ich habe versucht, ihm den verlorenen Sohn zu ersetzen, habe später ebenso erfolgreich in Turnieren gekämpft, aber wer kann sich schon mit einer unsterblichen Legende messen? Jeder Sieg schmeckt schal, wenn man weiß, dass man nur die zweite Wahl ist.«
Lena fühlte sich an ihren Bräutigam erinnert, der sie ebenso bereitwillig in seiner Seele hatte lesen lassen. Wie sehr sie ihn doch vermisste.
»Ich wünschte, ich hätte die passenden Worte, um Euch Trost zu spenden.« Fast hätte sie ihre Hand mitfühlend auf die seine gelegt, doch gerade noch rechtzeitig besann sie sich der Schicklichkeit.
Dietmar wich ihrem Blick aus. Ob ihm ihre Anteilnahme unangenehm war?
»In jenen Tagen verloren viele Menschen, was ihnen teuer war«, sagte er, als hätte er weder ihre Worte gehört noch die kurze, verräterische Bewegung ihrer Rechten wahrgenommen. »Leopolds Vater erreichte Byzanz, doch verstarb er dort kurz darauf, ohne jemals das Heilige Land betreten zu haben. Seine Getreuen führten seine Gebeine heim, doch das dauerte fast zwei Jahre. Leopold war indes zum Mann geworden und trat das Erbe seines Vaters an.«
»Nahm er an dem Zug teil?«
»Nein, er war damals noch zu jung, er ist nur zehn Jahre älter als ich.«
Wie alt mochte Graf Dietmar wohl sein? Fünfunddreißig? Blut stieg Lena in die Wangen. Hastig trank sie noch einen Schluck. Hoffentlich glaubte er, es sei nur der Schlehenwein. Warum fühlte sie sich nur so von ihm angezogen? Er war verheiratet, sie war hier, um sein Weib zu heilen, sie durfte sich nichts von ihm erhoffen, und doch kam es ihr so vor, als sei Dietmar ihr schon längst vertraut. War es seine Art, oder waren es seine leuchtend blauen Augen, die sie so sehr an ihren Bräutigam Martin erinnerten?
Die Tür wurde aufgerissen, im kalten Luftzug flackerte das Herdfeuer. Hanne stürzte in die Küche, die Wangen leicht gerötet. Vor Kälte oder gar vor Aufregung?
»Da draußen ist wer, der sieht aus, als wär er im Gefolge des Leibhaftigen gekommen!« Sie bekreuzigte sich.
Gerda hielt mit dem Rupfen inne und schüttelte missbilligend den Kopf. Lena sah das verdächtige Zucken um die Mundwinkel des Grafen, doch er blieb ernst.
»Der Leibhaftige ist hier?«, fragte er. »Das klingt nach einem ungewöhnlichen Gast. Weiß Herr Ewald schon davon?«
Erst jetzt gewahrte die junge Magd ihren Herrn. Die leichte Röte ihrer Wangen wurde unter Gerdas vorwurfsvollen Blicken fast so dunkel wie Burgunder.
Graf Dietmar lachte. Noch schneller, als sie hereingestürmt war, rannte Hanne wieder aus der Küche hinaus.
»Nun, dann wollen wir uns diesen seltsamen Gast doch einmal anschauen, oder was meint Ihr, Frau Helena?« Er zwinkerte Lena verschwörerisch zu und reichte ihr galant den Arm. Diesmal zögerte sie nicht, ihre Hand daraufzulegen.
Als sie den Innenhof betraten, sahen sie, dass es sich nicht um einen Ankömmling, sondern um deren zwei handelte. Die beiden Männer waren schon von den Pferden gestiegen und sprachen mit Ewald, der aufmerksam ein Pergament betrachtete.
Warum hatte Hanne sich nur so über den Anblick dieser Männer aufgeregt? Gewiss, der Kleinere von beiden war ein wenig seltsam gekleidet. Er trug eine Kopfbedeckung, die aussah, als hätte er sich mehrere weiße Stoffbahnen um das Haupt geschlungen. Auch wirkten seine hellbraunen Beinkleider recht sonderbar, denn die waren nicht eng anliegend, wie es sich geziemte, sondern aufgeplustert, weit und faltenreich. Um die Schultern wehte ihm ein grauer Mantel, dessen Schnitt sie noch nie gesehen hatte, aber er hatte nichts Erschreckendes an sich. Zwar war seine Haut dunkler als die eines sonnengebräunten Tagelöhners, und seine Augen wirkten fast schwarz, aber sie blickten eher fragend als stechend drein. Der Mann war noch jung, wohl Anfang zwanzig. Vielleicht war es sein seltsam gestutzter schwarzer Bart, der Hanne so verunsichert hatte. Ein schmaler Schnurbart und ein kleiner spitzer Kinnbart. Aber eigentlich war auch das kein Grund für das seltsame Gebaren der Magd.
Der zweite Mann, der gerade mit Ewald sprach und einen prachtvollen Rappen am Zügel hielt, war angemessen gekleidet, wenngleich Lena sich wunderte, warum seine Kleidung tiefschwarz war. Etwas hellere Farben hätten ihm gewiss gut gestanden und seinen Körper vorteilhaft zur Geltung gebracht. Doch selbst seine Stiefel waren aus schwarzem Leder
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