Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
verlassen und bist nach New York gezogen, wo du tatsächlich einen Job in einer Wurstfabrik gefunden hast, aber du hast nie bei deinem Bruder gewohnt und hattest auch keine Freunde …«
»Um Himmels willen, hilf mir, Gloria! Hilf mir aus diesem Fahrstuhl!«
»Du bist von einer Jugendstrafanstalt in die nächste gewandert, ein paarmal warst du sogar im Gefängnis. Du hast das traurige Leben eines Kleinkriminellen in irgendeinem Drecksloch in Queens geführt, als du mich kennengelernt hast …«
»Ich hab keine Ahnung, wovon du da redest.«
»Eine Zeit lang hast du mich erfolgreich aufs Glatteis geführt, hast es sogar geschafft, dass ich mich in dich verliebte und dich für etwas hielt, was du gar nicht warst. Hast mir jede Menge verlogene Geschichten über dein beschissenes, gescheitertes Leben erzählt, aber ich habe die Wahrheit trotzdem herausgefunden. Ich kenne auch die Wahrheit über deinen Onkel Walter. Ich weiß, warum er dir wirklich all diese Geschenke gekauft hat …«
»Er wird abstürzen! Hilf mir! Ich werde sterben, wenn du mir nicht hilfst!«
»Aber ich hätte nie gedacht, dass du dazu fähig bist, jemanden zu vergewaltigen, Jackson. Gott, sieh dich nur an. Ich wette, in ein paar Jahren wirst du dich nicht einmal mehr daran erinnern. Ich wette, du wischst das alles einfach beiseite und denkst dir irgendeine Fantasiegeschichte aus, so, wie du es immer getan hast. Nun, ich hoffe, du bleibst für immer hinter diesen Gittern und kommst nie wieder raus. Denn ich hasse den Gedanken daran, was passieren könnte, wenn du je wieder frei herumläufst. Deine Schwäche wird dein Untergang sein, vergiss das nie. Leb wohl, Jackson.«
Während er in der Dunkelheit des Fahrstuhls lag und die Funken auf ihn herabregneten, unfähig zu entkommen, sah Jackson zu, wie die Umrisse von Gloria allmählich verblassten. »Gloria, warte …« Aber sie war bereits verschwunden.
Er blieb mit nichts als seinen verdrängten Erinnerungen und einem kaputten Fahrstuhl zurück.
Plötzlich hörte er ein ohrenbetäubendes Knallen, als das Kabel doch noch riss.
Nur der Nachtportier war noch wach und wurde Zeuge der Verwüstung, die der Fahrstuhl anrichtete, als er sechs Stockwerke tief in seine letzte Ruhestätte in der Lobby hinunterrauschte.
Und die Wahrheit wird dich frei machen …
Schließlich fand er einen guten Job in der Werbebranche, kurz nachdem er und Gloria in einem Apartment in Manhattan zusammengezogen waren. Sie lebten ganz in der Nähe seines Bruders und dessen Frau, gingen gemeinsam in Bars, sahen zu, wenn die Band seines Bruders spielte, und lauschten den Auftritten von dessen Frau.
Es war ein großartiges Leben.
Irgendwann, ganz langsam, hielt eine Veränderung Einzug. Er liebte Gloria noch immer, aber sie wurde zunehmend distanzierter, kam spätabends nach Hause und flirtete in Bars mit anderen Männern.
Er sagte ihr, sie müsse ausziehen – er bezahlte die Miete –, als er sie mit einem anderen Kerl im Bett erwischte, und obwohl sie ihn anflehte, ihr noch eine Chance zu geben, weigerte er sich. Schließlich ging sie doch.
Er behielt die Wohnung, auch als das Gebäude immer mehr vor die Hunde ging, und hatte nur noch One-Night-Stands. Er wollte nicht noch einmal in eine Beziehung investieren und das Risiko eingehen, wieder verletzt zu werden.
Fünf Jahre vergingen und er hatte Gloria beinahe vergessen.
Er verliebte sich in das Singleleben, ging jeden Abend aus und gierte nach neuen Eroberungen.
Dazu war er bestimmt, das erkannte er nun.
In den ruhigen Nächten, in denen er alleine in seiner Wohnung saß und über sein bisheriges Leben nachdachte, wusste er, dass er ein gutes Leben sehen würde, wenn er eines Tages vor seinen Schöpfer gerufen und seine komplette Reise noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen würde, so, wie es angeblich kurz vor dem Tod geschah – erfüllt mit Sinn, Glück und Freude. Die Wahrheit.
Genau so, wie sein Schutzengel es ihm immer versprochen hatte.
NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:
Das Meeresrauschen in der Muschel gehört zu einer Handvoll Geschichten, die in New York spielen, und ist eine von vielen, die von Serienkillern handeln – beides Themen, die mich unendlich faszinieren. Dies ist meine Version des »Dein Leben läuft noch einmal vor deinem inneren Auge ab«-Motivs. Und noch eine kleine Randnotiz: In dieser Geschichte ist von der erfundenen Kleinstadt Belford die Rede. Auch wenn ich sie hier nur flüchtig erwähnte, wird sie doch in Zukunft als Schauplatz
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