Die Sünderin von Siena
auch zurück zu meinem Vater, damit ich nicht euch alle hier in Gefahr bringe.«
»Die Kinder werden sehr enttäuscht sein«, sagte Mamma Lina. »Aber ich muss sagen, dass ich deine Entscheidung begrüße. Es gibt einige Leute hier in Siena, die diesem Haus alles andere als wohlgesonnen sind. Ich darf mir keinen Fehler leisten – nicht den allergeringsten. Dabei müssten gerade diese Leute eigentlich Grund haben, ängstlich zu sein. Vielleicht macht sie ja gerade das so bösartig.« Ihr Gesicht hatte sich bei diesen Worten verschlossen. Älter sah sie plötzlich aus, hart und verschlossen.
»Was willst du damit sagen?«, fragte Gemma. »Kannst du nicht etwas deutlicher werden?«
Lina schien sie nicht zu hören. Die Augen in eine imaginäre Ferne gerichtet, sprach sie weiter wie zu sich selber.
»Du schleppst immer mit, was früher einmal war, davor bewahrt dich kein Gott, kein Schicksal, nicht einmal der allerbeste Freund. Die Vergangenheit lässt dich niemals los. Und selbst wenn du noch so vorsichtig bist, kann es doch sein, dass sie dich eines Tages …« Sie verstummte, als hätte sie bereits zu viel preisgegeben.
Gemma kam in den Sinn, was Matteo über das Geheimnis gesagt hatte, das Lina offenbar belastete. Unwill kürlich streckte sie die Hand aus, um die Freundin tröstend zu berühren.
Wieder zuckte Lina zurück, ließ es nicht geschehen.
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann«, sagte Gemma. »Was immer in meinen Kräften steht …«
»Schon gut.« Lina hatte sich abrupt erhoben. »Ich hoffe, das Schlimmste liegt jetzt hinter uns. Wann wirst du eigentlich Caterina Benincasa besuchen? Sie hat schon einige Male voller Ungeduld nach dir gefragt.«
»Sehr bald«, sagte Gemma. »Und ich werde ihr einen Besuch mitbringen, der ihr viel Freude bereiten wird.«
Lina räumte die Teller zusammen und türmte sie zu einem ordentlichen Stapel. Sie schien so vertieft in ihre Arbeit, als sei Gemma gar nicht mehr anwesend.
»Aber ich kann doch wiederkommen?«, fragte Gemma, die sich plötzlich sehr überflüssig fühlte. »Auch, wenn ich nicht mehr unter einem Dach mit euch lebe. Die Kleinen sind mir so ans Herz gewachsen, und ich …«
»Du möchtest doch etwas wissen, Gemma Santini.« Es war, als schauten die sprechenden grauen Augen auf einmal mitten in Gemmas Herz.
Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Gibt es eigentlich Unterlagen über die Kinder? Ich meine, ist irgendwo festgehalten, wer ihre Eltern sind?«
»Meines Wissens, ja. Aber du weißt, wie kläglich es um mein Lesen und Schreiben bestellt ist«, sagte Mamma Lina mit einem unsicheren Lächeln. »Wird höchste Zeit, dass dein Unterricht bei uns wieder beginnt. Barna hat irgendwelche Folianten aus einem Nebenraum in sein Uffizium geholt, als ich mich als Waisenmutter bei ihm vorgestellt habe, daran erinnere ich mich noch genau. Ich denke, in ihnen müsste alles Wichtige verzeichnet sein.«
Mein Freund kann jede Türe öffnen , schoss es Gemma durch den Kopf. So ähnlich hatte Leo gesagt. Jedes Haus in Siena . Aber traf das auch für das riesige Areal von Santa Maria della Scala und seine unzähligen Türen zu, in dem man sich wie in einem Labyrinth vorkommen konnte?
»Du weißt also nicht, woher sie stammen, wo sie früher gelebt haben und wer ihre Eltern sind?«, fragte Gemma weiter. »Auch nicht von den Kindern, die nun bei dir sind?«
»Nur von Mia, ihre Geschichte hab ich dir ja bereits erzählt. Die anderen habe ich vom Hospital übernommen, wo sie zuvor untergebracht waren. Aber weshalb willst du das alles auf einmal so genau wissen?«, fuhr Mamma Lina fort. »Jetzt jedenfalls sind sie alle zusammen meine Kinder, und allein das zählt für mich.«
»Ganz genau!«, pflichtete Gemma ihr rasch bei, um sie nicht noch misstrauischer zu machen. Doch der wachsame Ausdruck wollte eine ganze Weile nicht mehr aus Linas Gesicht weichen.
❦
Ein kleiner Trupp von Trommlern und Fahnenschwenkern versperrte Enea di Nero den Weg, und er musste stehen bleiben, um den jungen Burschen in der engen Gasse den Vortritt zu lassen. Als hätten sie nur auf williges Publikum gelauert, machten sie keinerlei Anstalten sich zu beeilen, sondern zelebrierten nun erst recht in aller Ausführlichkeit ihre Vorführung. Es war die alzata , bei der der Fahnenträger zunächst das Banner blitzschnell um den Stiel wirbeln muss, um es anschließend in die Höhe zu werfen.
Leider war der Junge, der das Kunststück ausführte, zu langsam gewesen oder zu ungeschickt. Er griff
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