Die Sünderin von Siena
knapp daneben, und die Fahne der Contrade Lupa landete im Staub. Mit blutrotem Kopf bückte der Unglücksrabe sich, um sie aufzuheben. Denn dicht hinter ihm erschallte das höhnische Gelächter einer anderen Jungengruppe, deren leuchtende Farben sie als Mitglieder der Contrade auswiesen. Niemand wusste mehr weshalb, doch »Wölfin« und »Stachelschwein« galten seit Langem als verfeindet und nutzten besonders die letzten Tage vor dem Palio, um diese alte Zwietracht genüsslich auszuleben. Und tatsächlich schien sich aus dem Nichts eine stattliche Balgerei zwischen den Jugendlichen zu entspinnen. Jetzt bahnte der Richter sich energisch seinen Weg; die übermütigen Bilder jedoch ließen ihn nicht mehr los.
Wie kampfeslustig und vergnügt die Jungen ausgesehen hatten! Ganz im Gegensatz zu seinem Sohn, der seit Tagen das Bett nicht mehr verlassen hatte. Giovanni fieberte, verweigerte die Nahrung und schien in einer Welt versunken, zu der er keinem anderen den Zugang erlaubte. Natürlich hatten sie Savo Marconi zu Hilfe geholt, der ihm fiebersenkenden Tee und geheimnisvolle Pastillen einflößte; entscheidende Besserung freilich war bis jetzt nicht eingetreten. Deshalb hatte Enea sich schließlich schweren Herzens Bices Forderung gebeugt, den Prediger aufzusuchen.
»Er muss ihm etwas Schreckliches angetan haben, und ich verlange von dir als seinem Vater, den padre zur Rechenschaft zu ziehen!« Wie eine Furie hatte sie sich vor ihm aufgebaut, mit blitzenden Augen und wirrem Haar. »Und wenn du zu feige dazu bist, dann werde eben ich gehen!«
Di Nero hatte triftige Gründe, Letzteres zu verhindern, und eben diese Gründe hatten ihn auch veranlasst, allein aufzubrechen, ohne die Unterstützung der Freunde, wie Bice zunächst vorgeschlagen hatte.
»Ich kann euch Männer nicht verstehen!« Die Arme über der flachen Brust verschränkt, hatte sie ihm aufgebracht den Weg verstellt. »Früher seid ihr viele Male gemeinsam nach Pisa gereist, als könnte einer ohne die Unterstützung der anderen keinen einzigen Schritt tun – und bei so einer wichtigen Angelegenheit bist du dann plötzlich ganz allein auf dich gestellt. Soll das etwa Freundschaft sein? Da weiß ich mir wahrlich Besseres!«
Er konnte seine Frau kaum noch ertragen, weder ihren von Tag zu Tag reizloseren Anblick noch ihre Worte, die wie eine vergiftete Quelle der Bitternis aus ihrem Mund flossen. Doch er gab sich alle Mühe, seinen Abscheu zu verbergen. Der Palio und damit auch das Datum des Umsturzes rückten immer näher. Natürlich hatte er Bice gegenüber kein Wort über die geheimen Pläne der Verschwörer verlauten lassen, und dennoch kam es ihm vor, als ahne sie etwas, als könne sie geradezu wittern, dass etwas Außergewöhnliches bevorstand.
Je näher er dem alten Stadtpalazzo der Salimbeni kam, desto häufiger mischten sich die schmutzigen weißgrauen Kutten der Engel unter die bunte Kleidung der restlichen Passanten. Savo hat recht, dachte er, es ist eine kleine Armee, angeführt von einem General, in dessen Hände wir allzu leichtsinnig unser künftiges Schicksal gelegt haben.
Das Tor war fest verschlossen; das ganze Gebäude erschien ihm schon von außen äußerst unwirtlich. Der Gedanke an eine uneinnehmbare Festung tauchte in seinem Kopf auf. Er musste mehrmals klopfen, bis ihm endlich einen Spaltbreit geöffnet wurde und er einem schlecht gelaunten Jüngling mit strähnigem Haar sein Anliegen vortragen konnte.
»Warte!« Mehr ein Brummen als eine Antwort, dann war der Riegel wieder zugeschnappt.
Der Richter stellte sich bereits auf eine Geduldsprobe ein, wurde aber überraschenderweise früher als befürchtet eingelassen. Innenhof und Treppenaufgang starrten vor Schmutz, das fiel ihm beim raschen Durchschreiten als Erstes unangenehm auf, und auch der Geruch, der über dem gesamten Anwesen hing, war schwer erträglich. Zudem wurde Enea bewusst, dass viele der Knaben und jungen Männer, die hier offenbar hausten, ausgesprochen mitgenommen, ja sogar elend aussahen. Manche lagen auf verfilzten Decken, andere wieder hockten zusammengekrümmt herum, als ob ein schweres Leiden sie plage.
Salimbeni wird nach ihrem Abzug ein wahres Vergnügen haben, dachte di Nero nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. Sein schöner Palazzo ist unversehens zur Kloake verkommen. Anstatt das Gebäude lediglich zu renovieren, wie ursprünglich geplant, kann er es wohl oder übel bis auf die Grundmauern niederreißen lassen, so halt- und maßlos haben diese
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