Die Sünderin von Siena
wiederum wäre nicht unbedingt nötig gewesen.« Bartolos Stirn war gerunzelt. »Die Contrade des Turms ist die mit den meisten Siegen innerhalb der letzten zwanzig Jahre. Da hätte es ganz andere gegeben, die weit vor ihr wieder einmal an der Reihe gewesen wären!«
Bange Augenblicke verstrichen. Bartolo ließ die bunte Fahnenreihe nicht mehr aus den Augen, und auch Gemma und Mario starrten sie gebannt an.
Der dritte Tusch. Das rot-grüne Banner wurde aufgehängt.
» Selva !« Bartolo sprang in die Höhe, drückte erst seine Tochter an sich, dann den Jungen, der einen dicken Schmatz auf beide Wangen bekam. » Selva – wir sind endlich wieder dabei! Unser geliebtes Nashorn wird es ihnen zeigen, wer der echte Sieger ist!«
Überall in ihrer Umgebung fielen die Menschen sich in die Arme. Manche weinten vor Freude. Jene Bewohner aber, deren Contrade leer ausgegangen war, wendeten sich ab, zogen finstere Gesichter oder stießen Flüche aus. Ein junger Mann neben Mario machte seiner maßlosen Enttäuschung, dass seine Contrade leer ausgegangen war, Luft, indem er mit einem Stock die Luft zerhackte.
Plötzlich legte sich der Lärm wieder. Am Fenster des Palazzo zeigten sich nun zwei der Ratsherrn.
»Die Gebrüder Benincasa«, erklärte Bartolo leise, und Gemma starrte neugierig nach oben zu den beiden, deren Briefe und Antwortschreiben sie nun schon einige Male hin und her getragen hatte.
»Bürger von Siena!«, begann Stefano, der ältere der beiden. Die Ähnlichkeit mit Caterina war unverkennbar, wenngleich sein wohlgerundetes Gesicht zeigte, dass er den Vorzügen der Tafel keineswegs abgeneigt schien. »Dieser Tag der Freude wird seit dem Morgen von einem tragischen Ereignis überschattet, dessen Kunde wir euch nicht vorenthalten wollen. Wir haben abermals eine Tote zu beklagen.«
»Sie wurde am Brunnen von Fontebranda gefunden«, fügte Puccio Benincasa hinzu, der schmal und klein war wie Caterina und dessen wirrer blonder Lockenschopf ihm etwas Weibisches gab. »Genau an der Stelle, wo schon einmal ein unschuldiges Kind sein Leben lassen musste.«
Etwas Kaltes rührte an Gemmas Herz. Plötzlich war es, als strömte flüssiges Eis durch ihre Adern. Lass es nicht schon wieder eines von ihnen sein!, betete sie stumm. Heilige Maria, Muttergottes, ich flehe dich an: Mach, dass es keines von Mamma Linas Kindern ist!
»Ein kleines Mädchen«, ergriff nun wieder Stefano das Wort. »Keine fünf Jahre alt. Wer auch immer dieses schreckliche Verbrechen begangen hat, wird hart bestraft werden …«
Es blieb Gemma keine Zeit, weiterhin auf seine Worte zu achten, denn unmittelbar neben ihr war Bartolo mit einem dumpfen Gurgeln kraftlos in sich zusammengesackt und zu Boden gestürzt.
Seine Lippen waren bläulich angelaufen. Er rührte sich nicht mehr.
❦
Jetzt erst, nachdem es langsam still wurde in Santa Maria della Scala, wagte sich Gemma aus der engen Wäschekammer, in der sie sich bislang versteckt gehalten hatte. Wie viele Stunden sie neben den ordentlich geschichteten Kleiderbündeln gekauert hatte, wusste sie nicht, doch die Zeit war ihr vorgekommen wie eine Ewigkeit.
Nun erhob sie sich mit steifen Gliedmaßen und hüllte sich wieder in den dunklen Umhang der Mantellatinnen, den Caterina ihr für Bice anvertraut hatte. Es ist bestimmt in Caterinas Sinn, sagte sich Gemma, während sie die Treppe zum ersten Stock nahm und danach den endlos langen, nur schwach beleuchteten Flur betrat, wo nur ab und zu eine Öllampe an der rau verputzten Wand für spärlichste Beleuchtung sorgte. Schließlich geht es bei der ganzen Unternehmung ja einzig und allein um die reine Wahrheit.
Wie hatten sie sich um Bartolo gesorgt, der erst nach einigen Augenblicken der Ohnmacht wieder zu Bewusstsein gekommen war! Zusammen mit Mario hatte sie veranlasst, dass ihn zwei starke Männer auf einer Bahre nach Hause trugen, eine Maßnahme, gegen die er allerdings auf dem gesamten Weg leise gewettert hatte. Lavinia war bleich geworden, als sie so ankamen, hatte ihren Mann sofort nach oben in den Alkoven bringen lassen und war die nächsten Stunden nicht mehr von seiner Seite gewichen. Sie war es auch gewesen, die darauf bestanden hatte, dass man den Apotheker rufen müsse, und so war schließlich Savo Marconi mit seiner schwarzen Tasche bei ihnen erschienen.
Hatte sich Gemma das lediglich eingebildet, oder vermied er wirklich, in ihre Richtung zu schauen? Jedenfalls durfte keiner dabei sein, während der Apotheker den Geschwächten
Weitere Kostenlose Bücher