Die Sünderin von Siena
untersuchte, das hatte er sich ausbedungen. Schließlich diagnostizierte er eine mittelschwere Insuffizienz des Herzens und verordnete die tropfenweise Anwendung einer Lösung aus Fingerhut und Sonnentau, die er selber zusammengestellt hatte.
»Keinerlei Aufregungen!«, hatte er die verängstigte Familie beschworen. »Sonst wird die Schwäche weiter zunehmen, und das könnte dann wirklich gefährlich für ihn werden.«
Bartolo schien es recht zu sein, dass er sich im Augenblick um nichts kümmern musste; schläfrig und schwer blinzelnd lag er unter seiner Decke, allen Fragen entzogen.
Er war genau in dem Augenblick zu Boden gestürzt, als von dem toten kleinen Mädchen beim Brunnen die Rede gewesen war! Dieser Gedanke hatte Gemma seitdem nicht mehr losgelassen. Inzwischen wusste sie, dass die kleine Cata mit dem süßen Lächeln das Opfer war – also doch wieder eines von Mamma Linas Kindern. Matteo hatte ihr die schreckliche Nachricht in einem kleinen Brief zukommen lassen. Matteo, in dessen zärtliche Umarmung sie sich flüchten würde, sobald dieses halsbrecherische Unterfangen endlich hinter ihr lag.
Die Tür zum Uffizium des Rektors. Und gleich nebenan musste der Raum liegen, von dem Mamma Lina gesprochen hatte. Wie schrecklich sie sich jetzt fühlen musste, nachdem sie ein weiteres ihrer Waisenkinder verloren hatte! Gemma wollte zu ihr gehen, sie fest in die Arme nehmen und zu trösten versuchen, das hatte sie sich vorgenommen, obwohl es, wie sie gleichzeitig wusste, für diesen neuerlichen Verlust keinen wirklichen Trost geben konnte.
Und wenn der schwarze Mann, den die Kleine als Einzige gesehen hatte, nun auch Cata geholt hatte? Ein Gedanke, der sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag in Gemmas Gehirn einnisten wollte. Vielleicht fand sie ja auch darauf eine Antwort, wenn sie hier erst einmal entdeckt hatte, wonach sie suchte.
Das Drahtstück in ihrer Hand fühlte sich auf einmal heiß an, aber das rührte wohl eher von der Hitze, die ihr Körper abstrahlte. Sie steckte es in das Schlüsselloch und drehte es langsam nach rechts. Das Schloss bewegte sich. Leos Freund bewies auch an dieser Tür seine Wunderkraft.
Sie zog das Öllämpchen aus der Tasche, die sie sich umgehängt hatte, gewann mit Zunder und Feuerstein geschickt einen Funken und brachte damit den Docht zum Brennen. Jetzt konnte sie sich umsehen. Dicke Folianten standen Rücken an Rücken in den einfachen Regalen aus Pappelholz. Ihr Finger glitt an den Beschriftungen entlang. Vieles war unleserlich und in Kürzeln verfasst, die ihr nichts sagten. Auf gut Glück zog sie einen Band heraus, trug ihn zu dem kleinen Tisch, der am Fenster stand, setzte sich auf den Klapphocker, den jemand dort abgestellt hatte, und begann zu blättern.
Die Ordnung war verblüffend, wie Gemma schon nach der Lektüre weniger Eintragungen feststellen konnte. Auch das, was nicht bekannt war, hatte man fein säuberlich notiert: Mutter: Aurelia Boldoni, Vater: unbek., Kind: Angelo * 4. 5. 1357 zu Siena …«
Gemmas Finger glitt weiter. Namen um Namen, alles Kinder, die schließlich zu getatelli und damit Schützlingen von Santa Maria della Scala geworden waren.
Plötzlich hielt sie inne. Mutter: Romana Cescolini, † 1362, Vater: Roberto Cescolini, † 1360, Kind: Lelio * 7. 12. 1357; Kind: Cecilia * 3. 3. 1360, † 3. 4. 1361 …
Da war er, ihr Liebling, und die wenigen Daten seines jungen Lebens, die sie im schwachen Schein entziffern konnte, sprachen ihre eigene Sprache. Sein Vater war gestorben, da war Lelio drei gewesen, die Mutter nur zwei Jahre später. Sein Schwesterchen hatte nur ein Jahr gelebt. Lelio war als Waisenkind im Hospital untergekommen, bis Mamma Lina ihm und den anderen Kindern ein neues Zuhause gegeben hatte, sechs Kindern, von denen inzwischen zwei nicht mehr am Leben waren …
Gemma schlug das Buch zu und stellte es zurück an seinen Platz. Sie durfte ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. Sie musste über Angelina herausfinden, was sie wissen wollte, sonst würde sie niemals innerlich Ruhe finden.
Zwei weitere Bücher musste sie durchsehen, dann war sie endlich im richtigen Jahr angelangt: 1363 war das Jahr, in dem Angelina wahrscheinlich geboren wurde. Jetzt galt es, halbwegs Ruhe und Geduld zu bewahren. Doch je näher sie dem gesuchten Datum kam, desto seltsamer wurde Gemma zumute. Ihr Hals war wie zugeschnürt, kalte Schauer liefen ihr über die Haut, dann wieder schwitzte sie. Sollte sie sich nicht doch von dem schweren Umhang
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