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Die Sünderin von Siena

Die Sünderin von Siena

Titel: Die Sünderin von Siena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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leblose Gestalt bereits aus einiger Entfernung. Cata lag auf dem Rücken, beide Arme weit ausgestreckt. Ihr Hemdchen war nach oben verrutscht und entblößte schrammenbedeckte, stämmige Beinchen. Die Augen waren weit aufgerissen, die Lippen verzerrt. Sie hatte sich besudelt, ihre kindliche Brust bedeckte eine dünne Spur von Erbrochenem.
    Mamma Lina beugte sich über das Kind und lauschte an seinem Herzen. Danach hob sie es auf, nahm es in die Arme und begann es zärtlich zu wiegen.
    »Schlaf, kleiner Liebling, schlaf!«, flüsterte sie. »Du musst keine Angst mehr haben. Jetzt bin ich ja bei dir und niemand kann dir mehr wehtun. Schlaf, meine süße Cata, schlaf!«
    Raffi, der halbwegs verstand, was er da sah, und es doch nicht verstehen wollte, begann loszuweinen.
    »Ist sie tot?«, schniefte er. »Sie ist doch nicht tot?«
    »Doch«, sagte Lelio. »Cata ist tot.«
    In seinem Kopf war nur noch ein weißes Rauschen, das immer lauter wurde. Wahrscheinlich würde ihm über lang oder kurz der Kopf wie eine mürbe Eischale platzen, aber selbst das war ihm in diesem schrecklichsten aller Augenblicke ganz und gar gleichgültig.
    Mamma Lina schaute ihn mit großen Augen an, als würden erst seine Worte das Geschehen wirklich wahr machen. Dann begann sie gellend zu schreien.

    ❦

    Am Tag der Auslosung wehten die Fahnen der sieben Contraden, deren Teilnahme bereits feststand, vom Palazzo Pubblico. Si corre – selbst das kleinste Kind in Siena wusste, was mit diesen beiden schlichten Worten gesagt war, die über Glück und Unglück so vieler Menschen entschieden. »Laufen!« Das konnte große Freude für die einen bedeuten und gleichzeitig unvorstellbaren Schmerz für andere.
    Im großen Sitzungssaal hatten sich seit den frühen Morgenstunden die capitani der siebzehn Contraden versammelt. Ein für diesen Tag eigens gewählter Zeremonienmeister zog nun aus einer Urne drei weitere Lose. Damit würde feststehen, welche Contraden am 16. August den diesjährigen Palio bestritten.
    Immer mehr füllte sich der Campo mit Menschen, die erwartungsvoll der kommenden Ereignisse harrten. Frauen vergaßen ihr Wäsche und ließen sogar ihre Kochtöpfe für eine Weile unbeaufsichtigt zurück; Männer stahlen sich aus den Kontoren und Geschäften, um Zeuge des Spektakels zu werden, mit dem Jahr für Jahr die heiße Phase des Palio eröffnet wurde. Kinder rannten herum, bunte Bänder an ihrer Kleidung, die zeigten, in welcher Contrade sie heimisch waren.
    Auch Bartolo, Gemma und Mario standen mit den vielen anderen in der Senke der wunderschönen Muschel aus rötlichem Stein, die Siena so große Ehre machte, und hielten sich zum Schutz gegen die höher steigende Sonne die Hand über die Augen.
    »Schau hin, mein Junge – dort oben an den Fahnenmasten siehst du die Embleme der Glücklichen, die im letzten Jahr die Unglücklichen waren. Zähl sie mir nacheinander auf! Ich möchte sehen, wie viel du schon über deine neue Heimat gelernt hast.«
    » Onda, Lupa, Nicchio, Bruco, Oca, Aquila und Pantera «, sagte Mario gehorsam und fügte anschließend leiser in seiner Muttersprache hinzu: »Welle, Wölfin, Muschel, Raupe, Gans, Adler und Panther.« Er war zufrieden; er hatte sie ausnahmslos an den Farben und Symbolen der Banner identifizieren können.
    »Ausgezeichnet!« Bartolos vibrierende Stimme verriet seine Begeisterung. »Aus dir wird doch noch ein echter contradaiolo , Mario! Jetzt müssen wir nur noch fest die Daumen drücken, dass auch unser geliebtes Selva …«
    Ein Fanfarenstoß ließ ihn innehalten. Trompeter waren an die Fenster des Palazzo Pubblico getreten. Die Menge auf dem Campo versank in gespanntes Schweigen. Dann ein kurzer, kräftiger Tusch. Eine neue Fahne erweiterte den bisherigen Reigen.
    »T artuca !« Dicht neben ihnen brach wilder Jubel los.
    »Das ist ihnen zu gönnen«, kommentierte Bartolo die Wahl großzügig. »Denn der Reiter der Schildkröte wurde im letzten Jahr aus nicht ganz einsehbaren Gründen vorab disqualifiziert. Möge die Madonna ihnen dieses Mal mehr gewogen sein!«
    »Aber gewinnen muss doch Selva , oder nicht, zio ?«, sagte Mario und fing sich als Antwort von Bartolo einen spielerischen Nasenstüber ein.
    »Damit scherzt man nicht, Mario«, sagte Gemma augenzwinkernd. »Schon gar nicht mit meinem palioverrückten Vater!«
    Der nächste Tusch. Jetzt wurde die Fahne Torre ausgehängt. Wieder Rufen, Pfeifen und begeistertes Klatschen, dieses Mal aus einer anderen, weiter entfernten Ecke.
    »Das

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