Die Sünderin von Siena
befreien?
Dazu würde immer noch Zeit sein, wenn sie erreicht hatte, was sie sich vorgenommen hatte. Ihr Finger fuhr entlang der Eintragungen weiter nach unten – und plötzlich stockte sie.
Das musste es sein! Mutter: Fiamma …
Sie schrak zusammen, als die Tür mit einem kräftigen Ruck aufgerissen wurde. Auf der Schwelle stand Celestina, in der Rechten eine brennende Kerze, deren unruhiger Schein ihr Krötengesicht zu einer wahrhaft satanischen Maske verzerrte.
»Da ist sie – die Mörderin!«, schrie sie. »Hierher, Messer Barna! Ich habe sie gleich neben Eurem Uffizium gestellt.«
»Ich wollte doch nur …« Gemma stand abrupt auf.
»Keine Bewegung!« Celestina hielt ihr die tropfende Kerze wie ein Flammenschwert drohend entgegen. »Was hat das arme kleine Ding gesagt, bevor es sterben musste? Der swarze Mann ! Ich erinnere mich an jedes einzelne Wort. Die Kleine hat sich nur in einem getäuscht: Schwarz war ganz richtig, wie wir jetzt wissen, aber es war kein Mann, der hinter den Kindern her war und sie getötet hat, sondern eine Frau. Diese Frau!«
Barna kam in das Zimmer gestürmt, begleitet von mehreren Wachen.
»Das hättet Ihr niemals tun dürfen!«, rief er aufgeregt. »Sich unbefugt Zutritt zu unserem Archiv zu verschaffen. Niemand darf das tun!« Sein Blick glitt über das aufge schlagene Buch, dann entdeckte er daneben Leos Freund, den Gemma auf dem Tischchen abgelegt hatte. »Und dazu mit tüchtigem Einbruchswerkzeug versehen! Euer Mann hat recht: Ihr seid wahrhaft von Dämonen besessen. Habt Ihr Euch deswegen an diesen unschuldigen Seelen vergangen?«
»Welchen Seelen? Und wieso mein Mann? Was hat Lupo mit alldem zu tun? Nur einen Augenblick, bitte! Ich kann Euch alles erklären, geehrter Rektor«, rief Gemma, die vor Angst plötzlich kaum noch schlucken konnte. »Ich bin nur hier, um …«
»Bindet sie!«, rief Barna. »Und dann ab in die Zelle, bis sie ihre schändlichen Taten gestanden hat!« Er straffte sich, wirkte plötzlich um einiges größer und stattlicher. »Gemma di Cecco, im Namen von Santa Maria della Scala klage ich Euch an des Mordes an den Kindern Mauro Porretta und Caterina Naddo, genannt Cata. Ihr werdet Euren Richtern vorgeführt werden.«
Jegliche Antwort blieb Gemma im Hals stecken. Zwei Männer rissen ihr grob die Hände auf den Rücken und schnürten sie mit einem Strick zusammen. Danach trieb man sie unter Schlägen aus dem Raum, den dunklen Gang entlang, die Stufen hinunter bis in den Keller, wo eine modrige Zelle die Gefangene aufnahm.
Neun
A ngst hatte ihre klamme Hand auf das stattliche Haus
der Santini gelegt, und all seine Bewohner bekamen
ihren eisigen Hauch von Tag zu Tag deutlicher zu spüren.
Trotz der eindringlichen Warnungen des Apothekers
hatte Bartolo das Bett in dem Augenblick verlassen, in
dem ihn die Schreckensnachricht erreicht hatte, und nach
heißem Wasser für eine Rasur sowie seinen besten Klei
dern verlangt. Seitdem war er rastlos in der Stadt unter
wegs, von seinem Kummer zu sehr in Anspruch genom
men, als dass er wie sonst jedes Jahr auf die vielen bunten
Fahnen hätte achten können, die nun zu Ehren des anste
henden Palio vor zahlreichen Fenstern flatterten. Sein
Hauptbestreben war, wie er immer wieder betonte, »zu
mindest das Schlimmste abzuwenden«. Wie er das anstel
len wollte, behielt er für sich; nicht einmal Lavinia wusste,
wen er nacheinander alles aufsuchte, um Gnade für die
älteste Tochter zu erflehen, doch leider waren seine An
strengungen bislang vergeblich geblieben.
»Sie sagen alle, sie könnten mir nicht helfen«, klagte er,
als er am dritten Tag grau vor Erschöpfung zu Hause an
langte, zu entmutigt und ausgelaugt, um sich noch an der
leichten Gemüsesuppe und dem Kalbsbraten zu laben.
»Nicht in so einem heiklen Fall. Wer sich mit Santa Maria
della Scala anlege, der müsse ein Idiot sein oder zumindest eine gehörige Portion Tollkühnheit besitzen. Das und noch Ärgeres musste ich mir anhören. Dabei dachte ich bislang, ich hätte in meiner Heimatstadt viele Bekannte und einige sehr gute Freunde. Doch wo sind sie jetzt allesamt geblieben? Wenn der Himmel seine Hand von dir abgezogen hat, stehst du auf einmal ganz allein da, das zumindest weiß ich jetzt.«
»Und Barna selber?«, fragte Lavinia. »Warum wendest du dich nicht direkt an ihn?«
»Bist du von Sinnen?«, herrschte er sie an. » Er ist doch derjenige, der mein Mädchen verhaften ließ!«
»Letztlich hat Gemma sich alles selber
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