Die Sünderin von Siena
auf einmal nicht mehr wissen, wer er eigentlich war, hat um Wasser gebettelt, und die Stiefmutter hat ihm auch welches gegeben. Aber es war wohl schon zu spät. Plötzlich ist er zusammengebrochen und hat unsere halbe Küche vollgespien. Schließlich sah man nur noch das Weiße seiner Augen – er war tot.«
»Salz«, wiederholte Mamma Lina nachdenklich. »Viel zu viel Salz! Und der Kleine hat sich wüst erbrochen, sagst du? Aber wie kann man Kinder dazu zwingen, Salz zu essen?«
»Indem man ihnen droht, es ihnen gewaltsam einflößt oder es heimlich unter die Speisen mischt? Wenn sie klein sind, ist es schwierig für sie, sich dagegen zu wehren«, sagte Maria. »Der Vater von Hans hat sich später übrigens erhängt. In unserem Speicher, weil wir doch gegenüber dem Salzstadel wohnen, als ob er noch im Tod diesem verfluchten Salz so nah wie möglich sein wollte. Mein Bruder Mario hat ihn dort am Balken entdeckt und sich über den Anblick derart erschrocken, dass er wochenlang nicht mehr einschlafen konnte und Nacht für Nacht …« Sie hielt inne. »Was ist mit Euch?«, fragte sie. »Ihr seht auf einmal so seltsam aus.«
»Nichts«, sagte Lina rasch. »Ich muss nur nachdenken.« Sie strich sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle sie einen Gedanken verscheuchen. »Was stellen wir nun mit dir an?«, sagte sie dann. »Hierbehalten, wie du es vielleicht erwartet hast, kann ich dich nicht, erst recht nicht jetzt. Das musst du verstehen.«
Maria stieß einen Seufzer aus. »Am liebsten würde ich gar nicht mehr zurückgehen. Schon gar nicht als Junge. Doch vorerst muss ich wohl wieder zu Mario werden, zumindest bis der Palio vorüber ist, wo ich den Trommler abzugeben habe. Etwas Besseres fällt mir im Augenblick nicht ein.« Sie zögerte. »Aber ich darf doch wiederkommen, falls ich noch einmal Eure Hilfe brauchen sollte?«
Mamma Lina nickte. »Jederzeit«, sagte sie. »Mein Haus ist ein Haus der Verlassenen und soll es auch künftig bleiben.«
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Matteo schwitzte. Seine Augen brannten, und sein Herz fühlte sich so wund an, dass er sich wunderte, wie es überhaupt noch regelmäßig weiterschlagen konnte. Noch ein Kind hatte sterben müssen, ein hilfloses kleines Mädchen – und Gemma war eingesperrt, des Mordes an Cata verdächtigt!
Er hatte es zunächst nicht glauben können, als Celestina ihm die Nachricht überbracht hatte, doch die ganze Stadt sprach von nichts anderem mehr. Vor allem in Fontebranda, wo die toten Kinder gelebt hatten, schlug die Aufregung über dieses Verbrechen so hohe Wellen, dass sogar der Palio und all seine festlichen Vorbereitungen in den Hintergrund gerieten.
»Ich muss sie sehen!«, hatte er gerufen. »Sie ist unschuldig, das weiß ich. Du musst mich zu ihr bringen – bitte!«
»Ausgeschlossen.« Das Krötengesicht war voller Abwehr. »Wie stellst du dir das vor? Gemma ist eine Gefangene des Hospitals. Ich darf ihr Essen und Trinken bringen, und das ist auch schon alles. Der Rektor hat angekündigt, dass sie der peinlichen Befragung unterzogen wird, um die Sache endlich aufzuklären. Aber natürlich erst, sobald der Palio vorüber ist.«
Das bedeutete: nicht mehr als achtundvierzig Stunden Aufschub. Danach würden sie die Liebste foltern, um ein Geständnis von ihr zu erpressen. Es gab wenige, die dieser Tortur standhielten. Wem erst einmal die eisernen Gerätschaften angelegt wurden, der konnte in aller Regel jegliche Hoffnung fahren lassen.
Das durfte mit seiner Liebsten nicht geschehen!
Daher hatte Matteo es kaum erwarten können, dass Celestina endlich sein Haus verließ, und gleich darauf auch Nevio weggeschickt, der allerdings nur unter Murren zum Gehen zu bewegen war.
Jetzt, endlich allein, setzte er das Stemmeisen an und lockerte die Schwelle. Fieberhaft holte er seine Schätze aus dem Versteck, breitete sie um sich herum aus und begann zu lesen. Wenn diese Schriften schon das Geheimnis aller Geheimnisse bargen, nach dem so viele Weise überall vergeblich suchten, dann musste in ihnen doch auch eine Antwort für ihn, eine Lösung verborgen sein!
Seine Augen glitten über die eng beschriebenen Blätter, aber viel zu bald stellte sich das vertraute Gefühl von Hilflosigkeit ein, das er bereits nur allzu gut kannte. Wer auch immer der Verfasser dieser Texte war, er musste entweder ein Genie gewesen sein – oder ein Wahnsinniger. An verschachtelte Sätze, deren Wendungen Matteo kaum zu folgen vermochte, schlossen sich kurze Begriffe an, dann wieder seltsame
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