Die Sünderin von Siena
begann seine Geschichte sie zu langweilen, und sie ließ ihn endlich eintreten. »Du findest ihn natürlich wie immer im Dachzimmer.«
»Was ist geschehen?« Der Hausherr kam ihm sofort entgegen, kaum war Savo Marconi oben angelangt. Der Raum, erhellt von vielen Kerzen, war trotz der Schrägen hoch und luftig. »Wieso bist du hier? Doch nicht etwa schon wieder wegen la Sala…«
»Bist du wahnsinnig geworden!«, zischte der Apotheker. »Nicht diesen Namen – und erst recht nicht hier! Kannst du sicher sein, dass dein misstrauisches Weib nicht hinter der Tür steht und lauscht?«
»Bice hat jetzt ganz andere Sorgen. Bin gestern mit dem Jungen etwas härter aneinandergeraten, und das hat Giovanni zum Anlass genommen, heimlich wegzulaufen. Der bekommt etwas zu hören, wenn ich ihn wieder in die Finger kriege!«
» Sie war bei mir«, sagte Marconi. »In meiner Offizin. Mit der ältesten Tochter von Santini und ein paar Kindern.«
»Welchen Kindern? Wieso taucht sie plötzlich mit Kindern auf?«
»Woher soll ich das wissen? Geredet hat sie kein Wort, das hat die andere besorgt. Aber geschaut hat sie, sage ich dir!« Er schüttelte sich. »Als wollte sie mich mit ihren dunklen Augen versengen.«
»Sie war bei dir – und was wollte sie?«
»Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht. Nicht die geringste Ahnung! Die andere hat Medizin gegen Reizhusten verlangt und mit teuren Elfenbeinkämmen bezahlt. Aber sie können wiederkommen – jederzeit wiederkommen, Enea, stell dir das nur einmal vor!«
Di Nero sah ihn eine Weile schweigend an.
»Das kann unser Ende sein«, sagte er dann. »Jetzt wird es wirklich eng für uns. Die Stadt ist in hellem Aufruhr. Du weißt, was dieser Prediger seit Tagen durch die Gassen brüllt? Und jeden Morgen werden es mehr, die ihm begierig zuhören.« Er ging zu dem Apotheker, packte ihn bei den Schultern. »Wo sind jetzt deine Pläne, Savo? Du hattest doch schon so treffliche Pläne geschmiedet!«
»Das Schlimmste daran ist, dass dieser Wahnsinnige auch noch die Salimbeni auf seine Seite gezogen hat«, erwiderte der andere dumpf.
»Das kann nicht wahr sein!«
»Ich weiß es vom Rektor höchstpersönlich. Rocco Salimbeni hat padre Bernardo ein Angebot unterbreitet. Dessen Antwort steht wohl noch aus. Doch wenn er einschlägt …«
Beide starrten sich stumm an.
»Sie muss aus der Stadt«, sagte Enea di Nero. »Sie muss Siena verlassen – auf der Stelle!«
»Ich fürchte, das reicht nicht. Sie kann uns auch aus der Ferne Schaden zufügen, sogar noch größeren, denn da wäre sie selber außer Gefahr. Nein, wir müssen sie zum Schweigen bringen. Nur, wenn sie den Mund nicht mehr aufmachen kann, sind wir gerettet.«
»Du willst sie …«
»Es gibt andere Mittel«, sagte der Apotheker. »Sie wirken zunächst eher im Verborgenen. Doch sie wirken ebenso gut.«
❦
Mamma Lina war mit den Kindern vorausgegangen, weil Lelio auf einmal über Schwindel klagte und Cata partout nicht mehr laufen wollte, sondern darauf bestanden hatte, getragen zu werden. Gemma genoss es, ein paar Schritte alleine zu machen, eine neuerdings ganz ungewohnte Erfahrung. Der Unterschied zwischen ihrer jahrelangen Einsamkeit und dem ständigen Trubel im Kinderhaus hätte größer nicht sein können. Sie liebte das Schreien und Lachen, das Zetern und Betteln der Kleinen – doch jetzt tat es gut, einige Augenblicke für sich zu sein.
Zunächst war sie zu vertieft, um zu bemerken, was um sie herum geschah, doch plötzlich nahm sie wahr, dass jemand hinter ihr ging – viel zu nah für ihren Geschmack.
Da waren sie, jene Schritte, die sie schon seit Langem zu hören glaubte! Sie drehte sich um und erschrak.
»Du?«, sagte sie. »Was willst du?«
»Was für eine unfreundliche Begrüßung!« Lupo di Cecco stieß ein kurzes Lachen aus. »Darf ich meine Frau nicht ein Stück begleiten?«
»Was willst du?«, wiederholte Gemma.
»Hab ich doch eben gesagt.« Er klang ungewohnt friedlich. »Es dunkelt, und da sollte eine anständige Frau nicht ohne männlichen Schutz auf der Straße sein.«
Gemma zuckte die Achseln, dann ging sie weiter. Er blieb an ihrer Seite, passte sein Tempo ihren Schritten an.
»Wie geht es dir?«, fragte er nach einer Weile.
»Bist du gekommen, um mich das zu fragen?«
»Unter anderem. Du weißt, wie sehr mir dein Wohlergehen seit jeher am Herzen liegt.«
»Hat Vater dich geschickt?«
»Bartolo? Nein. Der scheint im Augenblick ganz mit seinem Großneffen beschäftigt. Da wirst du wohl
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