Die Sünderin von Siena
Stück nach oben.
»Natürlich«, sagte Gemma. »Wir müssen es ausziehen. Sonst erkältest du dich obendrein noch.«
»Da siehst du seine Handschrift«, sagte er, während sie ihm das Hemd so behutsam wie möglich über den Kopf streifte. »Der beste Maler hätte die Farben nicht leuchtender mischen können! Dabei hat er sich seine Hände nicht einmal schmutzig gemacht. Meine aber will er mir brechen, falls ich dich nur noch einmal ansehe …«
Jetzt war sie es, die ihn küsste, mit warmen, offenen Lippen, die sich gar nicht mehr von seinen lösen wollten. Sie hielt inne, schaute ihn liebevoll an.
»Ist es zu fest? Tu ich dir weh? Dann musst du es sagen!«
»Und ob du das tust, Gemma! In meinem Herzen brennt und sticht es schon wochenlang, schlimmere Qualen als nach diesen Prügeln. Jeder einzelne Pinselstrich hat mir neue Schmerzen verursacht, aber ich musste dich trotzdem malen, ich konnte einfach nicht anders.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Dann hast du mir also verziehen?« Seine Schmerzen erschienen ihm immer weniger bedeutsam.
»Was, Matteo?«, flüsterte sie.
Sie war so nah und so vertraut, und sie erwiderte seinen Blick so unbefangen, dass es ihm wie ein Wunder erschien. Was für ein Tag – erst die Vollendung des Freskos, dann di Cecco mit seinen Handlangern und nun sie. Sie, Gemma!
»Bleibst du bei mir?«, fragte er leise.
»Natürlich lasse ich dich nicht allein, in diesem Zustand!«
»Das meine ich nicht.« Er rang nach Worten. »Über Nacht. Bis morgen früh.«
»Das kann ich nicht«, sagte Gemma. »Und du weißt es.«
»Weshalb? Wegen ihm, deinem Mann? Aber du liebst ihn doch nicht, sonst …«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen.
»Sprich nicht so viel!«, sagte sie zärtlich. »Das strengt dich zu sehr an. Hast du zu essen im Haus? Und Wein?«
»Ich verstehe nicht …«
»Lass mich in der Küche nachsehen!«
Gemma blieb eine Weile weg, und als sie zurückkam, hielt sie ein Glas in der Hand. Wieder half sie ihm behutsam, sich aufzurichten.
»Trink!«, sagte sie, und er tat es, an sie gelehnt.
»Es schmeckt irgendwie seltsam.« Matteo verzog seinen Mund.
»Rotwein mit einem verrührten Eidotter. Es gibt nichts Besseres, um schnell wieder zu Kräften zu kommen.«
Er ließ sich zurücksinken, sah sie nur an.
»Es ist wie ein Traum«, sagte er. »Viel zu schön, um wirklich wahr zu sein.«
»Ich weiß.« Gemma lächelte.
Und dann sagten sie beide sehr lange Zeit gar nichts mehr.
ZWEITES BUCH
Selva
Contrade des Waldes
Vier
J etzt war Gemma froh, dass sie nach dem Aufstehen
nicht mehr als ein Stück Brot gegessen und dazu nur einen Schluck Milch getrunken hatte, denn in der Zelle roch es streng. Zwischen den Holzlatten des Verschlages konnte sie knochige Schultern erspähen, zwei erbärmlich spitze Erhebungen unter dem groben Stoff sowie abgemagerte Hände, um die ein Rosenkranz aus schwarzen Perlen geschlungen war. Den weißen Schleier des Dritten Ordens hatte die Betende zu Hause offenbar abgelegt. Darunter waren ihre Haare raspelkurz geschoren wie bei einer Verbrecherin, das schmale Gesicht war von Pockennarben gezeichnet.
Das also sollte sie sein, jene geheimnisvolle junge Frau, von der ganz Siena in respektvollem Flüsterton bereits als neuer Stadtheiliger sprach?
Gemma hatte sie schon gekannt, als Caterina Benincasa noch ein kleines Mädchen mit runden Backen und braunen Locken gewesen war, das sich mit seinen zahllosen Geschwistern unbeschwert vor den großen Brunnen von Fontebranda vergnügt hatte, doch von dem fröhlichen Wildfang jener frühen Tage war nun beim besten Willen nichts mehr zu entdecken.
Es fiel Gemma immer schwerer, regungslos auf dem Steinboden zu knien. Sie begann unruhig herumzurutschen, um sich Erleichterung zu verschaffen, was ihr einen strengen Blick von Mamma Lina eintrug, die die halbe Nacht nicht geschlafen hatte, so entzückt war sie gewesen, als eine der Mantellatinnen sie endlich zum Besuch bei Caterina aufgefordert hatte. Inzwischen hatte Lina die Augen wieder fest auf die Betende unter dem bunten Christusbild gerichtet und sah dabei selber so andächtig und hingebungsvoll aus, dass Gemma sich noch unbehaglicher fühlte.
Sie hatte munkeln hören, dass Caterina seit Jahren weder Fleisch noch Eier berühre, dass sie selbst Brot nach Möglichkeit meide und sich hauptsächlich von Wasser und wilden Kräutern ernähre, um die Sündhaftigkeit des Körpers zu bekämpfen. Auch dass sie sich stundenlang mit einer nagelbestückten
Weitere Kostenlose Bücher